Zum Tod des Schriftstellers J. D. Salinger:Der Welt widerstehen wie ein Kind

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Der amerikanische Schriftsteller J. D. Salinger ist tot - und mit ihm hat der Leser seinen größten Beschützer verloren. Wie man lebt, zum "Fänger im Roggen" wird und sich dennoch verweigert.

W. Winkler

Von all den Fans, die ihm nachliefen, von all den Literaturwissenschaftlern, Groupies, Agenten, den einfach nur Neugierigen, die sich nicht damit begnügen konnten, seine Bücher zu lesen, war Mark David Chapman der schlimmste: Am 8. November 1980 erschoss er John Lennon und behauptete, J. D. Salinger habe ihn beauftragt.

Ein Autor geht nie ganz und gar verloren, denn es gibt ja seine Bücher. J. D. Salinger zog sich nach seinem Erfolg mit "Der Fänger im Roggen" aus der Öffentlichkeit zurück - und wurde dadurch fast noch berühmter. (Foto: Foto: AP)

Mark David Chapman war ein Leser, wie ihn sich ein Autor nur wünschen kann: Er konnte den "Fänger im Roggen" fast auswendig, und wenn er sein Exemplar einmal liegen ließ, kaufte er sich ein neues, um Salinger immer bei sich zu haben, wie ein Schmusetier, ein Totem, Abwehrzauber gegen die Welt. Selbstverständlich enthält die Geschichte von Holden Caulfield nirgends die Aufforderung, einen berühmten Musiker aus Liverpool, der in Manhattan endlich seinen Seelenfrieden gefunden hatte, einfach abzuknallen. Doch gibt es wenig andere Bücher, die so innig gelesen, so leidenschaftlich nachempfunden wurden.

Als Soldat in Deutschland

J. D. Salinger, der am Neujahrstag 1919 in New York in vergleichsweise wohlhabenden Umständen zur Welt kam, konnte mit der Musik der Beatles sicherlich wenig anfangen. Zu seiner Zeit hörte man Glenn Miller und rauchte im Schützengraben Lucky Strike. Die Schüler trugen noch Krawatte und kannten ihre Eltern kaum. Sie waren allein in der Welt. Nach mehreren Fehlversuchen, nach Publikationen in kleineren Zeitschriften, druckte der New Yorker Salingers Kurzgeschichten (nachdem er dort sehr oft abgewiesen worden war).

Sie besaßen das urbane Flair, das die Zeitschrift kultivierte, gleichzeitig lohte in ihnen bereits jene tiefe Verzweiflung, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Existenzialismus groß in Mode kam. Mit der Idee für den "Fänger im Roggen" zog Salinger in den Krieg nach Europa, kämpfte in der Normandie, schlug sich in der Ardennenschlacht, war Besatzungsoffizier in Franken und drehte durch. Nach allem, was man weiß und man weiß doch fast nichts, erlebte der Soldat Salinger in Deutschland nach dem Krieg einen Nervenzusammenbruch, Folge des Kanonenfiebers, Irrsinn des Überlebens.

Ein Geschichte mit viel Unrat und Gefühl

Er erzählt nichts davon, es steht aber doch manches davon in seinen Geschichten. In diesen Storys skizziert er das Epos der Familie Glass, beschränkt sich aber da, wo Thomas Mann mindestens eine Tetralogie fabriziert hätte, auf eine Handvoll Erzählungen. Esmé zum Beispiel stakst dreizehnjährig und doch schon ganz groß mit der Soldatenuhr ihres Vaters durch die Welt. Sie hat diese großen Augen und kann schon die ganz großen Wörter. Von dem GI, den sie kennenlernt, wünscht sie sich eine eigene Geschichte, eine Geschichte "mit furchtbar viel Unrat und Gefühl".

Der Soldat, der für Esmé die verlangte Geschichte mit Schmutz und Gefühl schreibt, der unglückliche Soldat Salinger, kennt das "vertraute Gefühl, als machte sich sein Denken selbständig und rutschte wie schlecht verstautes Gepäck oben im Netz herum".

Eine Psychotherapie soll ihm geholfen haben, und so entstand die große therapeutische Geschichte von Holden Caulfield, der mit sechzehn schon wieder von der Schule, aus einem weiteren Internat für wohlstandsverwahrloste Kinder geflogen ist und kurz vor Weihnachten durch Manhattan irrt.

Wer seinen Weg nachgeht, kommt unweigerlich an dem Haus vorbei, vor dem John Lennon erschossen wurde, aber Holden möchte die Welt oder wenigstens die Kinder retten. Er träumt sich als ihr Beschützer, eine Art Schutzengel, der die Kinder, die in einem riesigen Roggenfeld weit weg von Eltern und Lehrern selbstvergessen spielen, davor bewahrt, dass sie über die Klippe stürzen, auf die dieses Kinder-Paradiesgärtlein doch zuläuft.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Salinger der "Fänger im Roggen" hinterher wohl ein wenig peinlich war.

Im Video: Trauer um J.D Salinger. Der Autor des Buches "Fänger im Roggen" ist im Alter von 91-Jahren gestorben.

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Hinterher wird ihm der "Fänger im Roggen", der im Jahr 1951 erschien, dreißig Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times stand und dann allmählich zu einem dauernden Welterfolg heranwuchs, ein wenig peinlich gewesen sein, weil er da zu viel von sich preisgegeben hatte, nämlich dass er am liebsten Kind wäre, ein Kind, das der Welt aber durch seine schiere Naivität widerstehen kann.

"The Catcher in the Rye" - "Der Fänger im Roggen" war Salingers erfolgreichstes Werk. Danach publizierte er kaum noch. (Foto: Foto:)

Nach erwachsener Vorstellung regrediert dieser Holden, er will nicht erwachsen werden, er setzt die Mütze falsch herum auf, träumt zu viel und glaubt schon alles zu wissen. Aber in diesem Märchenbuch kann das gar nicht anders sein.

Es gab ihn fast nicht mehr

Und nicht nur, weil es Schullektüre ist (in den Vereinigten Staaten wurde das Buch, seiner Flüche wegen, bis in die achtziger Jahre hinein immer wieder von den Leselisten genommen), haben sich davon bis heute 65 Millionen Exemplare verkauft. Verfilmt worden ist es indessen nie, obwohl sich berühmte Regisseure darum bewarben. J. D. Salinger wollte nicht, wohl nicht zuletzt, weil der einzig mögliche Darsteller für Holden Caulfield sein Autor gewesen wäre.

Holden träumt sich weit weg von New York und Weihnachten und Schule und allem, irgendwohin, wo "die Leute mich nicht kannten und ich keinen kannte". Von dem Geld, das er vielleicht an der Tankstelle verdienen könnte, "würde ich mir irgendwo eine kleine Hütte bauen und für den Rest meines Lebens dort wohnen". Eine Frau, "ein schönes Mädchen", müsste dabei sein, am besten taubstumm, "und wenn sie was zu mir sagen wollte, müsste sie es auf einen verfluchten Zettel schreiben".

Und so geschah es.

Salinger zog sich vom Ruhm zurück und wurde noch berühmter dadurch, dass es ihn fast nicht mehr gab. Es folgten noch ein paar Geschichten, "Franny und Zooey" (1961) vor allem und "Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute" (1963). Aber dann war Schluss mit dem Publizieren.

Da sein Verschwinden zusammenfällt mit dem Auftauchen von Thomas Pynchon, dem anderen großen Geheimnisvollen der amerikanischen Literatur, wurde der Jüngere manchmal für den Älteren gehalten. "Ich habe", schreibt Seymour aus der Glass-Familie in sein Tagebuch, "ich habe an meinen Händen Narben von der Berührung bestimmter Menschen." Und dem ging Salinger seit fünfzig Jahren aus dem Weg. Er wurde das, was Tucholsky einen "aufgehörten Schriftsteller" nannte. Allem Vernehmen nach ergab er sich dort oben in seiner Einsiedelei in New Hampshire vom Buddhismus bis zur Orgon-Therapie mit Eigen-Urin-Verkostung jedem kurrenten Blödsinn.

Er mauerte sich ein, ließ sich von niemandem ansprechen, verklagte jeden, der seine alten Geschichten noch einmal neu herausbringen wollte. Er brauchte die Welt nicht.

Der Traum vom Verschwinden im Wort

In seiner Einsiedelei hat Salinger einen Traum verwirklicht, den vor ihm Hölderlin und Robert Walser geträumt haben: das Verschwinden im Wort. Einer zeitweiligen Geliebten zufolge - und solche gab es, mehr als eine - schrieb er zwar jeden Tag mehrere Stunden, überarbeitete das Geschriebene, legte es ab, nahm es beizeiten wieder vor, schrieb neu, schrieb um, und wollte es um keinen Preis mehr veröffentlichen, nicht jedenfalls zu Lebzeiten. "Ich schreibe wirklich gern", ließ er die Welt draußen wissen, "aber ich schreibe nur für mich, zu meinem Privatvergnügen". So wurden Autor und Leser allmählich eins. Vielleicht gibt es diesseits des Wahnsinns keine reinere Existenzform.

Ein Autor geht aber nie ganz und gar verloren, denn es gibt ja seine Bücher. Anders als J. D. Salinger waren seine Bücher immer zu haben. Es gilt noch immer das schlichte Wort, das einst an Augustinus erging: Nimm und lies!

Dieser Tag ist besser als jeder andere, um damit anzufangen: Lies alles von Salinger, was du kriegen kannst. Es ist nicht viel, keine fünfhundert Seiten zusammen, aber es ist das ganze weiße finstere traurige schöne Amerika des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts.

Am Donnerstag ist Jerome David Salinger im Alter von 91 Jahren in Cornish im amerikanischen Bundesstaat New Hampshire gestorben.

Der Leser hat seinen größten Beschützer verloren.

© SZ vom 29.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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