Zum Tod des Rechtsphilosophen Ronald Dworkin:Von der Pflicht zum guten Leben

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Ronald Dworkin befasste sich mit den Folgen von 9/11 und den Folterpraktiken in Guantánamo, mit neoliberaler Wirtschaftspolitik und dem fragilen Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Sein Opus Magnum heißt "Gerechtigkeit für Igel". Nun ist der große amerikanische Rechtsphilosoph gestorben.

Von Alexandra Kemmerer

Rechtsphilosophie solle interessant sein, sagte Ronald Dworkin in Oxford einem jüngeren Kollegen. Der fuhr ihn echauffiert an: "Sehen Sie es nicht? Genau das ist Ihr Problem." Offenbar sah der junge Don die Gelegenheit gekommen, dem umtriebigen und meinungsstarken öffentlichen Intellektuellen Dworkin einmal seine vermeintliche Oberflächlichkeit unter die Nase zu reiben. Und den impliziten Vorwurf, dass Dworkin außer großer Rhetorik wenig Substanz zu bieten habe.

Er bekenne sich in der Tat dieser Vorwürfe für schuldig, schrieb der Jurist und Philosoph Dworkin später über den Vorfall. Aber er müsse seinen Lesern zunächst einmal erklären, was er hier unter "interessant" verstehe. "Ich glaube, dass Rechtsphilosophie gleichermaßen für Disziplinen von Interesse sein sollte, die mehr oder weniger abstrakt sind als sie selbst. Sie sollte für andere Teildisziplinen der Philosophie von Interesse sein - für die Politische Philosophie natürlich, aber auch für andere -, und sie sollte für Juristen und Richter von Interesse sein."

Gedanken zu formulieren und kommunizieren, die über die Grenzen der Disziplinen und die Kluft zwischen Theorie und Praxis hinweg von Interesse sind - diesem selbst gesetzten Ziel ist der kämpferisch-feinsinnige Liberale Ronald Dworkin mit seiner Philosophie gerecht geworden wie kein anderer seiner Kollegen, aus der Philosophie wie aus der Rechtswissenschaft. Er hat Moralphilosophen mit den Dilemmata richterlichen Entscheidens konfrontiert und Generationen von Richtern einen genaueren Blick auf ihre alltägliche Praxis eröffnet.

Vertrauen auf die Kraft des moralischen Arguments

Seit 1968 kommentierte er in der New York Review of Books in luziden, pointierten Essays die amerikanische Rechtspolitik und insbesondere die Rechtsprechung des Supreme Court. Dworkin verhandelte die Erosion der Justizgrundrechte nach dem 11. September und die Folterpraktiken in Guantánamo, die neoliberale Wirtschaftspolitik und das fragile Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Er rief seinen Landsleuten die gemeinsame politische Kultur ins Gedächtnis und vertraute dabei auf die Kraft des moralischen Arguments.

Dworkins ethischer Liberalismus setzt auf die Kraft des guten Lebens und richtigen Entscheidens, auf die "große Sache" eines einheitlichen, universellen Systems sich wechselseitig abstützender Werte, das er in seinem 2011 veröffentlichten Opus Magnum "Justice for Hedgehogs" ("Gerechtigkeit für Igel") noch einmal eindrucksvoll entfaltet hat. Dem Wertepluralismus der "Füchse" setzt er einen integralen, objektiven Wertbegriff entgegen, der "richtige" Entscheidungen ermöglicht und fordert. Das Recht ist hier ein Teilbereich der Politik, die bei Dworkin ihrerseits dem weit ausgreifenden Feld der Moral eingegliedert ist.

Wir sind verpflichtet, das eigene Leben gut zu leben. Zu diesem ethischen Postulat tritt ein moralisches: Wir sollen andere so behandeln, als sei ihr Leben ebenso wertvoll wie unseres. Dworkins Theorien der Politik und des Rechts, der Demokratie und der Menschenrechte gründen in der Menschenwürde, die ihrerseits zwei Prinzipien umfasst: das Recht, um des eigenen Menschseins willen als Gleicher respektiert zu werden, und das Recht auf ethische Unabhängigkeit, auf die autonome moralische Entscheidung und Gestaltung des eigenen Lebens.

"Das richtige Bild vom Menschen trägt die ästhetisch-expressiven Züge der schöpferischen Person, die die Verpflichtung spürt, aus ihrem Leben etwas Produktives zu machen." So umriss Jürgen Habermas Dworkins Konzeption des "richtigen Lebens", als dieser 2006 mit dem Bielefelder Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde.

Für Dworkin hatte die Pflicht zum guten Leben den Entschluss bedeutet, nach wenigen Jahren als international tätiger Wirtschaftsanwalt den Weg in die Wissenschaft einzuschlagen. 1931 in Worcester, Massachusetts, geboren, hatte er während des Studiums der Philosophie in Harvard und Oxford seine Leidenschaft für das Recht entdeckt. Nach dem Examen an der Harvard Law School wurde er 1957 für ein Jahr Mitarbeiter ("clerk") des legendären Bundesrichters Learned Hand, der wohl das Vorbild für Dworkins idealen, allwissenden, unermüdlichen und stets richtig entscheidenden Richter "Herkules" in dessen erstem rechtsphilosophischen Hauptwerk "Law's Empire" von 1986 abgab.

Nach dem anwaltlichen Intermezzo an der Wall Street wurde Dworkin 1962 Professor in Yale. 1967 setzte er sich in einem viel beachteten Aufsatz in der Chicago Law Review mit H.L.A. Harts "The Concept of Law" auseinander; zwei Jahre später sollte er Hart auf dem Lehrstuhl für Jurisprudenz in Oxford nachfolgen, den er dann bis 1998 innehatte. Die rechtspositivistische Tradition in Oxford, die nach Dworkins Emeritierung von Joseph Raz fortgesetzt wurde, erwies sich für den eloquenten Redner und produktiven Autor als schwieriges Umfeld. Dworkin, der seine Argumente und Thesen im Gespräch entwickelte und sich als originärer Denker weder bei den Naturrechtlern noch bei den Rechtspositivisten einordnen ließ, fand anderswo anregendere Gesprächspartner. Schon seit 1975 war er Sommer Professor of Law and Philosophy an der New York University und veranstaltete mit Thomas Nagel sein "Colloquium in Law and Social Philosophy". Nach dem Weggang aus Oxford übernahm er zudem die Jeremy-Bentham-Professur am University College London.

Stets exquisit gekleidet

In seinen Häusern in New York, auf Martha's Vineyard und im Londoner Stadtteil Belgravia entfaltete der stets exquisit gekleidete Dworkin eine Theorie sozialer Gerechtigkeit, die von der gleichen Zuteilung von Ressourcen ausgeht. Vehement wandte er sich gegen die von Richard Posner und anderen Vertretern der Chicago School entwickelte ökonomische Analyse des Rechts. Seine Rückbindung der Demokratie an die individuelle Menschenwürde veranlasste ihn dazu, im Blick auf den 2010 vom Supreme Court entschiedenen Fall "Citizens United" ein politisches Beteiligungsrecht von Unternehmen im Wege der Wahlkampffinanzierung strikt abzulehnen. Dworkin geißelte die Entscheidung als rundweg verfassungswidrig und warnte vor einer "Welle des Geldes reicher Einzelpersonen, Unternehmen und Gewerkschaften, das die politische Landschaft verändern und die amerikanische Demokratie gefährden" könne.

Die durch die Menschenwürde fundierte ethische Autonomie des einzelnen erfordert für Dworkin nicht nur Religionsfreiheit. Sie verlange auch, schwierige Entscheidungen am Beginn und Ende menschlichen Lebens in die Hände der Betroffenen zu legen. Seit der vor 40 Jahren ergangenen Entscheidung des Supreme Court in der Sache Roe v. Wade hat sich Dworkin mit Fragen von Sterbehilfe und Abtreibung beschäftigt. Auch was er hier für "intrinsisch falsch" hält, legt er zur Entscheidung in die Hände des Individuums.

Dworkins letzte große Aufsätze galten der Auseinandersetzung um Obamas Gesundheitsreform vor dem Supreme Court, brillant und informativ wie immer. Im vergangenen Herbst wollte Dworkin nach Deutschland kommen, um sein letztes Buch "Gerechtigkeit für Igel" vorzustellen. Seine Krankheit zwang ihn, die Reise abzusagen - vorerst, wie er schrieb, auch wenn ein neuer Termin nicht abzusehen war. Am Donnerstag ist Ronald Dworkin in London gestorben.

© SZ vom 15.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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