Zukunft der Musikindustrie:Es ist alles da

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Noch nie wurde so viel Musik produziert und konsumiert wie heute. Trotz aller Diskussionen über Urheberrecht und Gratismentalität: Vielleicht ist das Musikgeschäft ja doch noch zu retten. Ein Blick nach vorn.

Martin Brem

Tom Silverman sieht ein wenig verwittert aus. Bei seiner Rede trägt er eine Vorrichtung auf dem Kopf, die sein Sichtfeld stark einschränkt und vor seiner Nase einen CD-Rohling baumeln lässt. Dann nimmt er die Scheuklappen ab und erklärt das Problem: Der physische Tonträger als Kernstück des Geschäftes müsse aus den Köpfen verschwinden. Es ginge doch um Musik, deren Darreichungsform vielfältig sei und ihre Wertschöpfung ebenso.

Silverman ist hier in New York der Spiritus Rector jener Konferenz namens New Music Seminar, die er 1980 mit ins Leben rief und die seit 2009 er nun wiederzubeleben versucht. Silverman war damals die Schlüsselfigur einer Szene, die Anfang der Achtzigerjahre die Machtposition der Musikkonzerne infrage stellte. Kleine unabhängige Plattenlabels, die sich im Kielwasser des Hip-Hop etablierten, waren damals die treibende Kraft einer Entwicklung, mit der die Zersplitterung der Musikbranche in unzählige Nischen und Felder ihren Anfang nahm. Silverman hatte eines dieser Labels gegründet. Auf Tommy Boy brachte er De La Soul heraus, House of Pain und Queen Latifah.

Damals - das Musikvideo hatte gerade den Radiostar getötet - schwang sich das New Music Seminar bis 1995 auf zum alljährlichen Klassentreffen der alternativen Musikszene. Jetzt soll das Gleiche wieder passieren: Die Zeit sei reif dafür, sagt Silverman.

"Your enemy is not piracy, your enemy is anonymity!"

Alle Vorträge und Diskussionen der Konferenz hatten in der vergangenen Woche diesen ansteckenden, zutiefst amerikanischen Optimismus. Dringend zu ergreifende Chancen und neue Geschäftsmodelle aller Art gab es zuhauf, auf das wieder eine wirklich lukrative Musikwirtschaft entstehe. Dabei sein kann man freilich nur, wenn man endlich bereit ist, die alten Überzeugungen zu verwerfen. Drei Tage lang gab es also weder Beschwerden über das Urheberrecht noch über die viel beschworene Gratismentalität der Kunden. Im Gegenteil. Wenn es sinnvoll ist, Musik zu verschenken, um jemanden zum Kauf einer Eintrittskarte zu bewegen, dann heiligt doch der Zweck die Mittel: "Your enemy is not piracy, your enemy is anonymity!" - Am schlimmsten ist es, wenn dich keiner kennt.

Wyclef Jean kläfft beim Künstlersymposium mit Public-Enemy-Frontmann Chuck D, Tommy Ramone und der neuen Selfmade-Sensation des Hip-Hop Hoodie Allen einen Fragesteller aus dem Publikum an, die Botschaft nicht verstanden zu haben: "Du hast heute alle Werkzeuge zur Verfügung, nimm es verdammt noch mal in deine eigenen Hände!" Das Internet sei das perfekte Instrument für eine neue Selbstermächtigung. "Was ist das eigentlich für eine dumme alte Idee, dass man Millionen Platten verkaufen muss, um erfolgreich zu sein? Du hast 800-mal deine Musik verkauft? Großartig. Kümmere dich um diese 800 Kontakte und wenn du gut bist, erzählen sie es weiter, und wenn nicht, dann ist deine Musik vielleicht nicht gut genug. Get on with it."

Der Mann, der mit der Musiktauschbörse Napster die Branche als erster herausforderte, fläzt sich auf der Bühne in sein Sofa und gibt ein paar nebulöse Statements zum Besten. Nach Napster gründete Sean Parker Technologiefirmen, war früh bei Facebook dabei. Heute genießt er als milliardenschwerer Investor selbst den Ruf eines Popstars, befeuert durch Titelgeschichten in Pop- und Wirtschaftsmagazinen und David Finchers Film "Social Network", in dem ihn der Pop-Superstar Justin Timberlake verkörperte. Parker ist heute einer der maßgeblichen Köpfe hinter Spotify, dem populären Musik-Streaming-Dienst: "Ich glaube ja immer noch an Besitz und Eigentum", sagt er vor einer ehrfürchtigen Menge und meint damit die Spotify-Playlisten, die für zehn Dollar im Monat werbefrei sind und unbegrenzt auf mobile Endgeräte kopiert werden können. So wie iTunes den Musikvertrieb revolutioniert habe, so werde Spotify nun mit "tiefer Facebookintegration" zum Wendepunkt in Sachen Musikkonsum.

"Appetite for Disruption" steht frei nach Guns N' Roses auf den T-Shirts der zahlreichen Helfer, die durch die historische Webster Hall wirbeln, einem neo-klassizistischen Konzertsaal im East Village. Er ist nicht weit entfernt von jenen Clubs und Bars, in denen Pop, Rock und Jazz in New York in den vergangenen 60 Jahren immer wieder neu erfunden worden sind. Ob Songschreiber, Radiomacher, Tourneeveranstalter, Verleger, Vertriebsagenten, Promoter, Marketing-Gurus oder Software-Architekten - welche Diskussionen man auch besuchte, überall erlebte man Menschen, die begeistert nach vorn blickten. Staunende Gesichter gab es auch bei der Präsentation von Rightclearing.com. Musiklizenzierung wird damit eine Art One-Stop-Shop. Online, versteht sich. Tom Silverman prophezeit eine Umsatzsteigerung von 20 Milliarden Dollar, wenn es gelänge, große und kleine Musiklizenzen so einfach zu machen, dass jeder User seine Youtube-Videos mit aktuellen Hits unterlegen könnte.

Sechs Prozent vs. 15 Prozent

Verblüffend auch Soundexchange, eine leistungsschutzrechtliche Wahrnehmungsgesellschaft, die ausschließlich bei Satelliten- und Internetradios sowie Youtube und anderen digitalen Streaming-Diensten Gebühren erhebt. Bereits eine ganze Milliarde Dollar konnte so bislang an Labels und Künstler ausbezahlt werden. Der Verwaltungsaufwand dazu beträgt übrigens sechs Prozent des Umsatzes. Zum Vergleich: Beim deutschen Rechteverwerter Gema betragen die Kosten für die Verwaltung 15 Prozent.

Man wollte sich den Optimismus, der beim New Music Seminar herrschte, fast einpacken lassen, um ihn in Deutschland den miesepetrigen Mahnern und Klägern einzuflößen. Hierzulande lehnen sich Wut-Künstler schließlich gegen Dinge auf, die nicht mehr rückgängig zu machen sein werden, und verteidigen Pfründe, die vielleicht doch nicht ganz so selbstverständlich sind, wie sie vielen noch scheinen. Die schöne alte Schallplattenwelt ist nicht mehr. Das kann man bedauern, man kann sich auch darüber beschweren - ändern wird es nichts. 2012 ist das erste Jahr, in dem in den USA im digitalen Musikgeschäft mehr Geld umgesetzt worden ist als im physischen Tonträgergeschäft. In Deutschland ist es noch nicht so weit. Aber es wird so weit kommen. Bis dahin wird sich, je nach Berufszugehörigkeit, über den vom Gesetzgeber privilegierten Monopolisten Gema geärgert - oder über die bösen Piraten.

Noch nie wurde allerdings so viel Musik produziert und konsumiert wie heute. Auf der ganzen Welt. Und es sieht auch endlich so aus, als könnte es tatsächlich doch noch gelingen, diese Aufmerksamkeit zu vermarkten. In New York wurde die Wiederauferstehung der Musikwirtschaft schon mal gefeiert.

Der Autor war Vice President für Europa beim Musikkonzern Sony Music und Direktor von Columbia Records in Deutschland. Inzwischen arbeitet er für den österreichischen Getränke-, Sport und Lifestyle-Konzern Red Bull an neuen Geschäftsmodellen für Musik.

© SZ vom 30.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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