Eine steile These, eine provokante Behauptung, eine nicht ganz unplausible Beobachtung einer Tendenz, aus der prompt ein neues Zeitalter wird - muss man schon froh sein, wenn jemand eine satte Zeitenwende behauptet, nur weil Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft oft so wahnsinnig vorsichtig, verschanzt hinter Deskriptionen und allgemeiner Achtsamkeit daherkommen? Leichter fällt es jedenfalls, froh darüber zu sein, wenn eine Gegenwartsdiagnose in Deutschland mal nicht kulturpessimistisch ausfällt. Und wenn man Wolfgang Ullrich etwas nicht vorwerfen kann, dann, dass sein Befund über "Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie" kulturpessimistisch geworden sei. Dieses Ende der Autonomie ist so hell, dass man sich eine dunkle Sonnenbrille aufsetzen muss und der Verlag für den Klappentext den Neologismus "kulturoptimistisch" hat springen lassen.
Die frohe Botschaft jedenfalls lautet, zugespitzt, dass nach dem bildungsbürgerlich-elitären Terror autonomer Kunst nunmehr Aktivismus und Giftshop sich zusammengetan haben, um in einer Versöhnung von weitreichender Inklusion und Konsum der Kunst endlich wieder handfeste Gebrauchswertereignisse von der Knuffigkeit eines Art Toys bis zur Restitution gestohlener Kolonialkunst an die Urheberkulturen zu bescheren.
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Virgil Abloh wird für einen einfallsreichen Aktivismus gefeiert, der sich schambefreit der Warenform bedient
Kronzeugen von Virgil Abloh bis Hans Sedlmayr marschieren auf, um die Front abzurunden. Der klerikalkonservative Sedlmayr kriegt eine resakralisierte Kunst, auch wenn es keine richtige Kirche, sondern ein Konsumkult ist; Abloh wird für einen einfallsreichen Aktivismus geehrt, der sich der Warenform nicht schamhaft und verlogen bediente, wie die Kunst der Moderne, sondern offen. Beyoncés und Jay-Zs Louvre-Besuch, Spielsachen von KAWS, Empowerment von Kerry James Marshall und Detektivarbeit von Forensic Architecture vervollständigen das Panorama des verdienten Endes der Autonomie-Epoche durch Social-Media-Infantilismen auf der einen und seriöse politische Kunst auf der anderen Seite. Auch frühere Kunstbegriffe vom europäischen Mittelalter, indigenen Kulturen und natürlich Instagram eilen herbei, um das Schreckensregime von Adorno und Duchamp zu beenden.
Dass Giftshop-Kultur und Aktivismus keine Gegensätze seien, sondern mitunter am selben Strang ziehen, ist unabhängig von der Bewertung dieser Entwicklung, auf den ersten Blick nicht ganz abzuweisen. Gemeinsam ist beiden eine gewisse und nicht immer nur unproduktive Ungeduld gegenüber den auratischen Objekten. Sie sollen endlich die Welt retten, die Exkludierten inkludieren und sich zum Knuddeln mit nach Hause nehmen lassen.
Die Pointe des Buches liegt aber gerade in der Bewertung: relativ überschaubare, um nicht zu sagen banale Rezeptionsereignisse werden durchweg dichten, spannenden, pointenreichen vorgezogen. Originell ist nur die hier entworfene Koalition, die was Ampeliges hat: linke Aktivisten und rechte Marktfans kommen in der realen Kunstwelt nicht zusammen, niemand, der die Ziele des Aktivismus unterstützt, kann die der Kommerzialisierung unterstützen und umgekehrt - Ullrichs Pointe: er findet beides trefflich und glaubt, dass andere ihm beipflichten
Nun, die Beispiele sind alle real, bestreitbar wäre, wie viel Veränderung sie signalisieren, wo doch 99 Prozent der Kunstinstitutionen noch genau so funktionieren wie seit den großen Booms der Nullerjahre. Schaut man sich benachbarte Welten an wie die der Pop-Musik, auf die auch Ullrich schaut, würde niemand deren politisiert-aktivistischen Anteil kleinreden und niemand den kulturindustriellen. Trotzdem ist etwa Kendrick Lamars Album "To Pimp A Butterfly" ein autonomes Kunstwerk: Autonom heißt nicht unbeeinflusst von Welt und Geld, sondern nach eigenen Regeln zu rezipieren.
Duchamps "Großes Glas" konnte man schon in den Achtzigern als Duschvorhang kaufen
Hinzu kommt, dass Inklusion und Partizipation seit Menschengedenken das Kerngeschäft gerade der Reformbewegungen der Autonomiekunst bilden (Dada, Fluxus, relationale Ästhetik und so weiter) und auch Duchamps "Großes Glas" - Ullrichs Beispiel für einen besonders abgedreht sinnlosen Fall von Autonomie - konnte man schon in den Achtzigern als Duschvorhang kaufen. Das tatsächlich Neue sind neue Formen, neue Gegenstände, neue Themen des Aktivismus - aber auch sie werden weitgehend in Bezug auf und in den Foren ausgetragen, die um jene Kunst herumgebaut sind, die Ullrich in seiner sehr weiten Auslegung des Autonomiebegriffs zur obsoleten Kunst rechnet.
Dabei gehen dann zwei Schritte ziemlich schief: zum einen der mit unnötig groben Strichen gezeichnete Pappkamerad "Autonomie", zum anderen die Verkennung des historischen Zusammenhangs zwischen der aktuellen Stärke von Aktivismus und Giftshop-Kultur und eben genau der Logik einer modernen und nachmodernen Kunst, in deren Verlauf der Begriff der Autonomie eine Rolle gespielt hat und noch spielt.
Erstens ist Autonomie bei Ullrich verbunden mit ausgedachten kunstreligiösen Tiefgründeleien, in der Realität längst unauffindbarer bildungsbürgerlicher Beflissenheit und fiesen Reinheitsobsessionen, nicht wie mindestens genauso oft mit guten Witzen und notwendig komplexen Ideen. Ullrich hängt wie so viele Populisten dem Missverständnis an, das intellektuell Fordernde sei fromm und bieder, tatsächlich bildet es die Grundidee des Unterhaltsamen. Einerseits ekelt er sich vor Geniekünstlern, andererseits sind ihm ausgerechnet die Geniegegner Kafka und Duchamp spielverderberische Verkörperungen obsoleter Rätselkunst. Unterschiede ums Ganze, wie zwischen Adorno und Heidegger, verblassen vor der großen gemeinsamen Schuld an der Autonomie.
Dass sich nicht alle gute Weine leisten können, spricht gegen den Kapitalismus, nicht gegen guten Wein
Ullrichs Sprache klingt unaufgeregt, er überdehnt und dämonisiert mit freundlich postheroischer Miene. Doch sein eher assoziativ und grob ermitteltes Gegenüber der Art-Toy-Aktivismus-Befreiung hat nichts gemein mit der relativ unspektakulären Tatsache, dass Autonomie zunächst nichts anderes meint, als dass bildende Kunst eine gewisse aus dem Alltag herausgehobene Aufmerksamkeit, die man einem sofort gebräuchlichen Objekt nicht widmen würde, beansprucht.
Und diese Aufmerksamkeit, die bei Kant "interesseloses Wohlgefallen" heißt, hat nichts mit emotionaler Kälte und Desinteressiertheit zu tun, wie Ullrich andeutet. Sondern damit, dass man kein existenzielles Interesse an der Realität des Gegenstandes hat, also ein niederländisches Fressalien-Stillleben betrachtet, weil man Hunger hat oder davon hungrig wird. Diese Aufmerksamkeit beruht auf Privilegien, wofür dieser Konstruktion schon lange und zu Recht die kritische Hölle heiß gemacht wird, aber da geht es gegen das Privileg; nicht, was dieses ermöglicht. Dass sich nicht alle gute Weine leisten können, spricht gegen den Kapitalismus, nicht gegen guten Wein.
Zweitens ist Autonomie aber nun auch seit etwa 100 plus/minus 50 Jahren genau der Ort, in dessen Zentrum die von Ullrich entdeckten Verselbstständigungen des Handels und des Aktivismus entstanden sind, nicht von außen - nämlich als Konsequenz ihrer Dialektik von Aktion und Reflexion, Wirkung und Aufschub, ästhetischer Dringlichkeit und ausgesetzter Zeitlichkeit. Dass die Kunst autonom sei, sich also selbst Gesetze gibt, bedeutet, dass diese übertreten werden und umstritten sind und, seit es sie gibt, infrage gestellt und reformiert werden. Historisch führte dieser Umstand nicht nur dazu, dass der Wert der Selbstreflexivität und der Infragestellung der institutionellen Grundlagen von Kunst (darunter den materiellen Bedingungen von Autonomie) zu ihrem zentralen Wert aufgestiegen ist, sondern auch dazu, dass direkt aufgrund dieser Befunde aktivistische Kunst als eben Ergebnis einer sich selbst ernst nehmenden Selbstgesetzlichkeit entstehen konnte - freilich nur gegen die Heteronomie von Markt und Staat und oft auch wieder erfolgreich von diesen vereinnahmt.
Auch die totale Affirmation des Marktes wird schon ewig und regelmäßig von den Picabias, den Koons und Hirsts dieser Welt als autonome Maßnahme gerne mit dem Claim der Subversion gegen elitäre oder zu akademische Kunst in Stellung gebracht. Der Markt war schon am Anfang jeder Kunstautonomie das Gegenprinzip zum kirchlichen und höfischen Auftrag. Zu sagen, das habe eine neue Qualität erreicht, ist wenig plausibel; auch die hier viel beschworenen globalen neuen Sammler kaufen vor allem White-Cube-Ware. Lediglich die anti- und dekolonialen Inhalte sind heute wirklich neu und relevant - Ullrich verbindet am Ende ein anderes, eher fragwürdiges Unterfangen damit.
Es ist kaum möglich, dass er für sein gegenautonomes Projekt einer Kunst, die durch einen verbreiteten und nicht mehr auf Minderheiten beschränkten Besitz an Kunstwaren ein Heilmittel gegen Elitismus finden will, leicht satisfaktionsfähige Verbündete findet. Er versucht dies, indem er eine Allianz aus einem den Restitutions- und antikolonialen Aktivisten zugeschriebenen Animismus des Objekts und dem, was man früher Warenfetischismus genannt hätte, zu schmieden ansetzt: eine neue "Dinghaftigkeit".
Ein Gemälde von Chéri Samba, auf dem der afrikanische Künstler in Trauer über die vom Kolonialismus geraubten Kultobjekte diese mit melancholischer Miene vor sich versammelt, parallelisiert Ullrich mit einem Foto, das einen stolzen Art-Toy-Sammler mit seinen Figürchen zeigt. Ullrichs Sprache ist vorsichtig, aber es läuft darauf hinaus, nicht-europäische Kunst mit Spielsachen zu vergleichen. Da hilft es nicht, dass Ullrich diese Spielsachen viel besser findet als die alteuropäische Geniekunst, die angeblich außerhalb des Spielplatzes das Sagen hat oder hatte.