Wird Polen totalitär?:Babyeinfach und zerrissen

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Zwischen Danzig und Berlin: Die deutsche Journalistin Emilia Smechowski ist für ein Jahr nach Gdańsk gezogen und hat versucht, ihr Heimatland Polen zu verstehen.

Von Jens Bisky

Für ein Jahr ist die Berliner Journalistin Emilia Smechowski nach Danzig, Gdańsk, gezogen, um das heutige Polen zu erkunden, in dem seit 2015 die rechtspopulistische Partei PiS regiert. Ihre kleine Tochter nahm sie mit. Am ersten Tag in der neuen Kita verhielt sich die Vierjährige wie in Berlin auch, sie gab der Mutter einen Kuss, schubste sie über die Türschwelle und winkte ihr zu, als sei nichts dabei, in einer fremden Stadt, unter lauter Unbekannten ein neues Kita-Leben zu erproben. Eine Woche später dann erzählte die Tochter von einem Jungen, der ihr die Autos wegnehme. Sie sei doch ein Mädchen, dürfe daher nicht mit Autos spielen. "Was hast du daraufhin gesagt?". fragt Emilia Smechowski. "Nichts", antwortete die Tochter, "Ich kann doch gar kein Polnisch".

Emilia Smechowski war fünf Jahre alt, als sie 1988 mit ihrer Familie aus der Volksrepublik Polen nach West-Berlin floh, eine neue Sprache lernen musste. Vor zwei Jahren hat sie in ihrem Debüt "Wir Strebermigranten" darüber berichtet, den Aufstiegswillen ihrer "Leistungsträger"-Familie geschildert. Ihre Tochter, mit dem Polnischen ein wenig nur vertraut, braucht in Danzig nicht lang, um die Sprache der anderen Kinder zu sprechen, zu sagen, wann sie Hunger oder Durst hat, auf Toilette will, was sie spielen möchte. Bald schon sieht es so aus, als würde die Vierjährige ihre Mutter sprachlich überholen: "Vor Kurzem fing sie an, immer wieder von einem Brötchen mit Butter zu reden, bis ich sie endlich frage, was das zu bedeuten habe". "Bułka z masłem", das sagt man, wenn etwas ein Kinderspiel ist, "wenn etwas babyeinfach ist, dann sagt man das".

Es gibt nur wenige Bücher, die den polnischen Alltag beschreiben, Träume, Sorgen, das normale Leben der Nachbarn. Daher liest man die Geschichten aus dem Kindergarten, dem Wohnhaus, den Einkaufszentren gern, folgt Emilia Smechowski neugierig zu einem Treffen der Tartaren, in ein Dorf, nach Posen und Warschau, auf all den Expeditionen in das "Land voller Widersprüche". Manches ist gut beobachtet: "Die Polen lieben die Anarchie, aber sie stehen auch wahnsinnig auf Ordnung", resümiert Smechowski nach einem halben Jahr: "Auf Spielplätzen hängen meterlange Benutzerordnungen, im Schwimmbar stehen manchmal sechs Bademeister pfeifend am Beckenrand (und halten dabei gelbe Plastikbananen als Rettungsbojen in der Hand, was ihre Autorität wiederum untergräbt). Beim Schwimmunterricht müssen alle, auch Erwachsene, eine Badekappe tragen. Und wenn man in der Kita sein Kind von einem fremden Elternteil abholen lassen will, muss man ein Formular ausfüllen, als wollte man einen neuen Reisepass beantragen".

Das Jahr im Heimatland endet mit der Ermordung des Danziger Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz

In der Tat begleitet und ergänzt ein großer Ordnungssinn die sprichwörtliche polnische Freiheitsliebe. Statt diesem Nebeneinander weiter nachzuspüren, wagt Emilia Smechowski eine große politische These, vorgetragen im nur scheinbar zurückhaltenden Subjektivitätssound: "Manchmal wundere ich mich nicht, dass das Land auf dem Weg ist in totalitäre Strukturen." Wäre die Formel von der "illiberalen Demokratie" nicht angemessener? Das Gerede vom Totalitären verstellt bloß den Blick.

Das Jahr im Heimatland endet mit der Ermordung des Danziger Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz, der über Jahre der halb konservativen, halb liberalen Bürgerplattform PO angehörte und 2018 mit dem Bündnis "Alles für Danzig" im zweiten Wahlgang wieder zum Stadtpräsidenten gewählt wurde. Nach dem Mord wurde landesweit gegen Hass und Gewalt demonstriert. Unter den Trauernden vor dem Rathaus in Danzig stand im Januar 2019 auch Emilia Smechowski. Sie war, schreibt sie, "wirklich verzweifelt", fühlte sich zum ersten Mal "als Polin, als Danzigerin". Und ihre Tochter fragte: "Mama, warum weinst Du?"

Was hätte wohl Paweł Adamowicz zu Smechowskis Behauptung gesagt, die Bürgerplattform PO dürfe man sich nicht "als politisches Gegengewicht zur PiS" vorstellen? "Im Grunde unterscheiden sich Bürgerplattform und PiS nicht allzu sehr, wenn es um Wertvorstellungen und Lebensstile geht". Sollen wir wirklich glauben, die Unterschiede zwischen den Werten, denen Jarosław Kaczyński folgt, und denen, die Donald Tusk wichtig sind, seien nicht allzu groß? PiS wie PO, begründet Smechowski ihre These, lehnen gleichgeschlechtliche Partnerschaften ab und unterstützen die katholische Kirche. Ersteres stimmt nicht ganz, Letzteres ist zu allgemein formuliert.

Und das schreibt Smechowski ausgerechnet in einem Porträt des Posener Stadtpräsidenten Jacek Jaśkowiak, der seit 2013 Mitglied der Bürgerplattform PO ist und als erstes Stadtoberhaupt in Polen die Schirmherrschaft über die "Parade der Gleichheit", die Gay-Pride-Demonstration in Posen, übernommen hat. Auch nennt er sich einen Atheisten. Es gibt gewiss aufschlussreiche Gemeinsamkeiten zwischen den verfeindeten Parteien. Sie zu beschreiben, verlangte aber mehr Interesse für Zeitgeschichte, als Smechowski aufbringt. Sie gibt sich lieber mit Floskeln des Kommentarbetriebes zufrieden und überdeckt das Fehlen von Neugier mit dramatisierenden Übertreibungen. Die Linke, heißt es, habe es im postkommunistischen Polen immer schwer gehabt. Nun, sie hat mehrfach regiert. Der linke Präsident Aleksander Kwaśniewski führte Polen in die NATO und die EU. Nirgendwo sonst als in Polen habe es eine rechtskonservative Partei zur absoluten Mehrheit gebracht, heißt es im Buch. Was ist mit Ungarn? Die falsche Übertreibung erspart es Smechowski, auf die Wahlkämpfe einzugehen und zu erklären, warum die PiS 2015 mit 37,6 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erlangen konnte. Der Historiker Peter Oliver Loew hat auf forumdialog.eu einige der sachlich falschen Behauptungen zusammengetragen.

Unter den alarmistischen Zuspitzungen verblassen die wichtigen politischen Konflikte der letzten Jahre. Die "Justizreform" und die Paralysierung des Obersten Gerichts, den Märtyrerkult um die Toten des Flugzeugabsturzes von Smolensk, die mit Ermordeten gleichgesetzt werden, die Einwanderung von etwa zwei Millionen Ukrainern streift die Autorin nur oberflächlich. Dabei käme es für das versprochene Porträt eines zerrissenen Landes darauf an, Positionen und Eskalationsdynamiken genau darzustellen. Emilia Smechowski hat ihre polnischen Erfahrungen mit Berliner Erwartungen abgeglichen. Eine Sprache für die Ambivalenzen im heutigen Polen hat sie dabei nicht gefunden.

Emilia Smechowski: Rückkehr nach Polen. Expeditionen in mein Heimatland. Hanser Berlin, Berlin 2019. 256 Seiten, 23 Euro.

© SZ vom 11.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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