Wildtiere und wir:Wo hört der Spaß auf?

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Neue Bücher berichten davon, wie Füchse, Biber und Wölfe dem Menschen immer näher rücken - Städte erobern, Felder überfluten, Schafe reißen. Und wie man mit Ängsten umgeht.

Von Rudolf Neumaier

Ein Monsterlein geht um in Winhöring. Mit "Sorge um Sicherheit" titelte der Alt-Neuöttinger Anzeiger Anfang Juli einen Beitrag über das Tier, und eines der kostenlosen Anzeigenblätter, die es im Osten Oberbayerns noch gibt, warnte: "Besser vorsichtig sein: Ein Jungfuchs treibt sein Unwesen." Das Raubtier habe einen 16 Jahre alten Hauskater gerissen, es zeige keine Scheu und sei womöglich tollwütig. Wenn ein präpotentes Füchslein, gerade dem Welpengeheck entflohen, schon Unbehagen auslöst, wie dramatisch wird die Lage erst, wenn der Wolf da ist?

Auch aus anderen Orten berichteten Zeitungen in den vergangenen Monaten von übergriffigen Füchsen. In Bernried versteckten sie Schuhe und klauten einen Festbraten, der zum Abkühlen vorm Haus stand, in einem Hotel in Kärnten wurde ein Gast nachts durch Bisse in den Fuß geweckt, und in Frieding griff ein Fuchs zeltende Kinder an, einem Mädchen biss er in die Hand. "Fuchsbisse", schreibt die britische Wildtier-Forscherein Adele Brand, "sind äußerst selten, doch sie berühren einen wunden Punkt, der seit Urzeiten in uns eingeschrieben ist." Die Angst vorm wilden Tier scheint tief zu wurzeln im Menschen.

"Füchse. Unsere wilden Nachbarn" heißt ein neues Sachbuch von Adele Brand im Verlag C.H. Beck. (Foto: imago images/blickwinkel)

Adele Brands Buch über "Unsere wilden Nachbarn", die Füchse, ist nun auf Deutsch erschienen. Es liegt auf der Hand, dass sie - wie die allermeisten Wissenschaftler, die sich mit Tieren beschäftigen - über die neutrale Vermittlerinnenrolle hinaus auch die Position der Fürsprecherin einnimmt. Offenbar liegt eine Art Wandel durch Annäherung zugrunde: Wer sich lange mit seinen Objekten beschäftigt und sogar wie Adele Brand eine malade Füchsin bei sich zu Hause aufgepäppelt und zehn Fuchswelpen aufgezogen hat, überwindet die angeborenen Urängste und wird zum innigen Freund der Spezies. Wenn naturwissenschaftliche Autoren das erlebte und erforschte Faszinosum als eine runde Geschichte wiedergeben können, wird lesenswerte Literatur daraus. Ein großer deutscher Zoologie-Erzähler ist zum Beispiel Josef Reichholf, Adele Brand kommt ihm nahe. Wer zu einem fußnotenlosen Lesebuch über Füchse greift, wird Parteinahmen aus der erzählerischen Ich-Perspektive ohnehin kaum verübeln.

Wie die Beispiele aus Winhöring und Bernried zeigen, sind Füchse längst in den Wohnsiedlungen angekommen. Auch in München, wo im Stadtgebiet über das Jahr 2018 hinweg 105 Füchse erlegt wurden, auch in Großbritannien: Brand hat sie nahe dem Trafalgar Square beobachtet. Und das liegt keineswegs daran, dass Briten Füchse mit Schweinebraten anfüttern, die sie vor ihren Küchen auskühlen lassen. Es reicht schon, wenn Schulkinder ihre Pausenbrote im Park entsorgen und die Wohlstandsstädter mit und in ihrem Müll Stadtmäuse und Ratten züchten, die den Füchen wiederum zur Nahrung dienen. Außerdem räumt Brand mit dem Missverständnis auf, beim Fuchs handle es sich um einen reinen Fleischfresser: Für fruchttragende Sträucher und Obstbäume sei er ein "Verbündeter, der die im Fruchtfleisch enthaltenen Kalorien aufnimmt und so die kostbaren Samen in seinem Verdauungssystem in neue Gegenden trägt".

Füchse können ganz schön brutal sein, das räumt Adele Brand in ihren Fuchsbuch ein

Biologen sprechen bei Füchsen von Kulturfolgern. Die Tiere passen sich den Gegebenheiten an, die ihnen geboten sind. Statt sich zurückzuziehen in die letzten Reservate der Natur, dringen sie in Wohngebiete ein. Dort entwickeln sie neue Lebensformen. Verstecke gibt es in Städten wie London genügend, der Fuchs braucht da nicht eigens einen Bau zu graben. Und wo die Kollegen im Wald ihre Kothäufchen gern auf Baumstümpfen oder Steinen hinterlassen, weil sie ihre Defäkation nun mal bevorzugt an exponierten Stellen verrichten, markieren Stadtfüchse ihre Losung auf Bürgersteige. In London fand Brand eine frische Fuchshinterlassenschaft bei einem Bushäuschen an den Royal Courts of Justice.

Christof Angst und andere: "Der Biber. Baumeister mit Biss" (Südost-Verlag, Regenstauf) untersucht die Rückkehr des Bibers in Kulturlandschaften des Menschen. (Foto: imago/blickwinkel)

Füchse können ganz schön brutal sein, das räumt Adele Brand ein, wird aber selten konkret. In einem soeben erschienenen Buch über den Biber wirkt der Fuchs schon etwas bestialischer. Es schildert einen Fall aus der Schweiz, wo zwei Biber, die beim Baumfällen etwas ungeschickt vorgingen und sich mit dem Unterkiefer ins Holz einklemmten, bei lebendigem Leib von Füchsen verspeist wurden.

Drei Autoren um den Schweizer Ökologen Christof Angst haben zusammengetragen, wie sich der Biber seit seinem Comeback in Mitteleuropa entwickelt hat und welch neue Erkenntnisse über dieses immer noch rätselhafte Wesen die Wissenschaft gewonnen hat. Vor ein paar Jahren galt es noch als nahezu unmöglich, außerhalb der Säugezeit der Jungtiere das Geschlecht von Bibern zu bestimmen. Die Genitalien liegen unter einer Hautfalte. Inzwischen weiß man, dass das Analdrüsensekret sichere Hinweise liefert: dünnflüssig gelblich ist es beim Männchen, an graue Zahnpasta erinnert es beim Weibchen. Das Sekret der Biber, das Bibergeil, ist seit jeher begehrt beim Menschen. Diente es früher der Potenzsteigerung und als Heilmittel gegen Fieber, Gicht und psychische Störungen, wird es heute in der Parfümherstellung verwendet.

Das Buch mit dem Untertitel "Baumeister mit Biss" ist reich an Bildern und Geschichten, und es steckt voller Leidenschaft für dieses Tier. "Uns ist es ein Anliegen", schreiben die Autoren, "dass wir als Gesellschaft die Herausforderung mit dem Biber aufnehmen." Und dann erst im äußersten Notfall den Jäger holen. Dass der Biber mancherorts erhebliche Schwierigkeiten bereitet, räumen die Autoren ein. Mal zerstört er zum Beispiel landwirtschaftliche Flächen und verwandelt sie in Seenlandschaften, wenn er Bäche aufstaut, mal vernichtet er großflächig Mais. Und wenn er Ufer untergraben hat, ist schon mancher Bauer mit seinem Traktor in eine Grube gestürzt. Abgesehen davon holzt er mit seinen respekteinflößenden Schneidezähnen meterdicke Eichen um.

Klaus Hackländer plädiert in "Er ist da. Der Wolf kehrt zurück" für eine kontrollierte Bejagung des Wolfes (Ecowin-Verlag). (Foto: imago images/Panthermedia)

Bei allen Wildtierbüchern, die derzeit erscheinen, stellt sich die Frage: Wie viel Wildnis lässt der Mensch zu? Wie viel Schaden riskiert er? Wo hört der Spaß auf?

Für den Wolf macht der Wiener Wildbiologe Klaus Hackländer in seinem äußerst ambitioniert layouteten Buch "Er ist da" schon mal Vorschläge, wie sich Problemen vorbauen lässt. Vom Aussterben sei dieses Tier heute garantiert nicht mehr bedroht, sagt Hackländer. Wölfen könnten "ausgewiesene Schutzgebiete" zugewiesen werden, statt sie europaweit unter strengsten Schutz zu stellen. Hackländer bezieht sich auf eine norwegische Studie, wonach der Wolf durch Jagd auf Distanz zu den Menschen zu halten sei.

Diesem Autor merkt man an, dass auch er sich intensiv mit seinem Tier beschäftigt hat. Ans Herz gewachsen ist ihm - im Gegensatz zu den Füchsen bei Adele Brand und zum Biber bei Christof Angst und seinen Co-Autoren - der Wolf nicht. Vielleicht ist dieser dazu einfach zu gefährlich. Während die anderen Tierschriftsteller Verständnis für Biber und Fuchs ebenso einfordern wie Rücksichtnahme, geht Hackländer sensibler vor: Er nimmt Rücksicht auf die Menschen und stellt anheim, ob "die Menschen die Präsenz der Wölfe tolerieren oder wie groß die Schadenstoleranz ist". Wölfe begnügen sich nicht mit alten Hauskatern, Mäusen oder Sonntagsbraten. Vergangene Woche wurden in Garmisch fünf Schafe gerissen. Alles deutet darauf hin, dass es ein Wolf war.

Adele Brand: Füchse. Unsere wilden Nachbarn. Verlag C.H. Beck, München 2020. 208 Seiten, 22 Euro. Klaus Hackländer: Er ist da. Der Wolf kehrt zurück. Ecowin-Verlag, Salzburg, München 2020. 224 Seiten, 24 Euro. Christof Angst und andere: Der Biber. Baumeister mit Biss. Südost-Verlag, Regenstauf 2020. 191 Seiten, 29,90 Euro.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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