Werte in der Diskussion:Worthülsen, Werkstolz

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Wolfgang Ullrich: Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017. 175 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Wolfgang Ullrich erklärt und kritisiert unsere Bekenntniskultur und ihre "Moralkulisse". Werte wirken hier als rhetorische Bengalo-Feuerwerke, die das eigene Tun sozialverträglich einhüllen sollen. Siehe Nike und seine Steuerpraktiken.

Von Meredith Haaf

Was haben Sie und ich, der Sportartikelhersteller Nike und sämtliche Mitglieder des Bundestags gemeinsam? Alle haben wir Werte, zu denen wir uns zu irgendeinem Zeitpunkt bekennen und von denen wir behaupten, dass sie unser Handeln begründen und begleiten. Jedem von uns, der das tut, verschafft dieses Bekenntnis nicht nur einen sozialen Vorteil, sondern auch ein - oftmals völlig unbegründetes - gutes Gewissen.

Von dieser Beobachtung jedenfalls geht Wolfgang Ullrich in seinem neuen Essay "Wahre Meisterwerte" aus. In der Warenwelt, der Unternehmenskommunikation, im künstlerischen Aktivismus oder in Politik-Pädagogik: Überall werden Werte formuliert, als Richtlinien eingesetzt und als Verständigungsgrundlage angeboten.

Ein "Markenmanagement"-Unternehmen formuliert das auf seiner Webseite etwas anders: "Unsere Überzeugung ist, dass das Management eines Unternehmens wertebasiert handeln sollte, damit es nachhaltige Erfolge erzielt. In Zeiten völliger Transparenz ist Reputation dabei ein wertvolles Gut. Deshalb entwickeln wir mit Ihnen eine Marke, die sich ehrlich und authentisch an den drei Säulen der Nachhaltigkeit orientiert: Ökonomie, Ökologie und Soziales. Neben den Vorteilen einer herkömmlichen Marke (...) erschließt eine wertebasierte Marke noch mehr Potential."

" ... das Beschwören von Werten im Plural besitzt somit palliative Funktion"

Die Sprache der Werte ist eine, in der Signifikanten und Signifikat oftmals nur noch mit Mühe zusammengebracht werden: "Natürlichkeit, Wirksamkeit, Verträglichkeit" oder "Integrität, Respekt, Mut und Transparenz" zum Beispiel, das sind ja große Worte. Ullrich hat sie auf den Verpackungen von Eyeliner-Stiften und Lotionen gefunden. So werden Konsumakte und Geschmacksäußerungen in der Wertewelt zur Manifestation der moralischen Gesinnung. Wer seine Solidität ausdrücken will, kauft "hochwertig", wem es eher um Achtsamkeit geht, "fair produziert". Der Warenversandhandel Manufactum etwa bewirbt eine Papp-Aufbewahrung für Geschenkpapier und Bastelzubehör als Lösung für "eine der letzten großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts".

In Ullrichs Deutung haben Werte mehrere Funktionen, aber keine von ihnen ist von philosophischer Substanz. Zum einen dient das Gerede über Werte dazu, das zu errichten, was er eindrücklich als "Moralkulisse" bezeichnet. Werte wirken darin - je nachdem, wer spricht - als rhetorische Bengalo-Feuerwerke, die das eigene Tun in einen möglichst sozial verträglichen Kontext einhüllen sollen - siehe Nike, dessen "Core Value" die "Gemeinschaft" ist, das aber mit unglaublich komplizierten Manövern vermeidet, irgendwo Steuern für jene Gemeinschaften zu zahlen.

Auch über das gesamte Parteienspektrum hinweg bekennen sich Politiker zu ihren Werten, pointiert kritisiert Ullrich in seinem Text den "auffällig unbestimmten Plural", in dem dies geschieht: "Die allgemeine Berufung auf Werte im Plural ist vielmehr als der Versuch zu deuten, Einigkeit mit anderen zu bekunden, die ihrerseits von Werten sprechen. Man tut so, als seien die Gemeinsamkeiten zwischen allen, die sich zu Werten bekennen, viel größer als eventuelle Unterschiede. (...) das Beschwören von Werten im Plural besitzt somit palliative Funktion." Familie! Freiheit! Gerechtigkeit! Da sind sich alle einig und doch auch gar nicht. Zugleich schürt nichts so sehr Vorbehalte gegen Einwanderer und Minderheiten wie die Behauptung, diese seien mentalitätsmäßig nicht wertekompatibel mit der deutschen Gesellschaft. Werte, das ist eine der Analysen Ullrichs, sind Instrumente, die in unserer Gesellschaft zugleich als Halteriemen und Spaltpilze zum Einsatz kommen - je nach Bedarf.

Auch von dort rührt Ullrichs "Unbehagen" gegenüber seinem Sujet her. Die Werte, die heute hoch im Kurs stehen - wie "Nachhaltigkeit", "Toleranz" oder "fair produziert" sind seiner Ansicht nach "Wohlstandswerte", die nur unter "materiellem Aufwand, Mehrkosten, oft sogar komplexen Infrastrukturen" zu realisieren sind. Man kennt die Feierlichkeit, in der Wertebekenntnisse vorgetragen werden: "Uns ist Gemeinschaft sehr wichtig, deshalb ziehen wir jetzt aufs Land." Oder: "Wir lehnen Leistungsdruck ab, deswegen gehen die Kinder auf die Waldorfschule." Ullrichs Ansicht nach verkommen Werte auf solche Weise zu einem reinen Mittel der sozialen Distinktion, oder, um es mit dem Soziologen Andreas Reckwitz zu sagen, der Singularisierung.

Wie Reckwitz in seiner Studie über "Die Gesellschaft der Singularitäten" (SZ vom 26. Oktober) sieht auch Ullrich Werte letztlich als Vehikel zur Akkumulation sozialen Kapitals. Wer seine Werte leben kann, erfahre einen "Werkstolz", glaube also, in seinem Lifestyle gesellschaftlichen Fortschritt zu realisieren. Umgekehrt gilt ein Leben, in dem man ständig darauf verzichten muss, gleichberechtigt, frei und rein zu leben, als minderwertig, und zwar in der Gesamtgesellschaft sowie individuell.

Und dann sind die Mitwirkenden ergriffen von der eingebildeten historischen Größe ihres Tuns

Allerdings darf man von diesem Buch keine Gesellschaftsanalyse im engeren Sinn erwarten. Es ist leider gerade dann schwach, wenn Ullrich allgemeinere Behauptungen aufstellt, der Spagat zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und essayistischer Behauptung gelingt nicht immer. Umso treffender geraten die Analysen des Kunsthistorikers und Philosophen dann, wenn es um die Bildsprache auf Instagram geht, oder eben um politische Kunst. Besonders schlecht weg kommt bei ihm der "Artivismus" von Gruppen wie dem Zentrum für Politische Schönheit, deren "aggressiven Humanismus" er als "tyrannische Wertevermittlung" bezeichnet. Diese politische Aktionskunst sei weniger auf Wirksamkeit aus als darauf, "dass bei den Mitwirkenden ein Gefühl von Ergriffenheit angesichts der vermeintlich historischen Dimensionen des eigenen Handelns" aufkommt. Wenn man das einmal so gesehen hat, fällt es schwer, die wiederkehrenden Holocaust-Vergleiche der ZPS-Aktivisten noch akzeptabel zu finden.

Werte, so konstatiert Wolfgang Ullrich mit Niklas Luhmann, sind "Medien der Entpolitisierung", Worthülsen, die zu oft Konsens dort konstruieren, wo mehr Dissens angebracht wäre. Sein Buch ist bestens geeignet, unser Wertegerede zu verstehen und zu kritisieren.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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