Weltkulturerbe:In einer völlig anderen Welt

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Seit Goethes Zeiten wirken die griechischen Tempel von Paestum faszinierend, aber auch unheimlich. Ein junger deutscher Direktor versucht mit allen Mitteln, sie gegenwärtig zu halten.

Von Thomas Steinfeld

Als Johann Wolfgang von Goethe im März 1787 auf seiner Reise durch Italien nach Paestum reiste, geriet er in eine, wie er später schrieb, "wüste" und "unmalerische Gegend". Auch die drei großen Tempel, die er dort vorfand und die aus der Zeit der griechischen Besiedelung Süditaliens stammen, gefielen ihm zunächst nicht: "Der erste Eindruck konnte nur Erstaunen erregen. Ich befand mich in einer völlig anderen Welt." Goethe hatte das klassische Griechenland erwartet, eine lichte, wohl portionierte Welt. Was er dagegen zu sehen bekam, waren die Hinterlassenschaften einer älteren Zeit: hohe Massen, schwere Säulen, eine im wahrsten Sinne des Wortes kolossale Antike.

Die "furchtbare" Enttäuschung überwand Goethe, indem er sich selbst erklärte, das Gefällige habe aus dem Ernsten erst hervortreten müssen. Die Tempel von Paestum seien daher, so "plump", wie sie wirkten, eine notwendige Stufe der Entwicklung auf dem Weg zu einem idealen Griechentum. Dann wurde ihm leichter zu Gemüt, und er verbrachte einen ganzen Tag in den Ruinen, während sein Begleiter, der Zeichner Christoph Heinrich Kniep, die Tempel mit dem Stift festhielt.

Das Erstaunliche haben die dorischen Tempel von Paestum seitdem nicht abgelegt. Gewiss, sie bilden nicht mehr, wie im späten 18. Jahrhundert, eine der nur wenigen Möglichkeiten für einen Mitteleuropäer, überhaupt die griechische Antike zu erleben (Athen lag damals im Osmanischen Reich und war nur unter größeren Schwierigkeiten erreichbar). Doch stehen sie immer noch wie drei gigantische Fremdkörper in einer gänzlich flachen Umgebung.

Die Sümpfe, die den Ort im Mittelalter und in der frühen Neuzeit umgaben, sind längst trockengelegt. Der Strandtourismus, wie er sich in der Umgebung mit ihren Hotels, Restaurants und Buden aller Art entfaltet, ist aber nicht unbedingt attraktiver. Und immer noch wirken die Tempel unheimlich. Das liegt an ihrer Größe und an der Leere um sie herum - aber nicht nur daran. Das Unheimliche ist auch in der Art begründet, wie diese Ruinen entstanden sind: nicht als Folge einer Naturkatastrophe wie Pompeji, nicht durch mehr oder minder gewaltsame Abnutzung wie in Rom, sondern durch das Erlöschen der griechischen Kultur in dieser Gegend. Irgendwann im fünften oder vierten Jahrhundert v. Chr. wurde die griechische Kolonie (genauer: die Kolonie einer Kolonie, eine "Apoikia") von den Lukanern, einem Volk von "Barbaren", erobert oder schlicht übernommen.

Seit 2015 werden die antiken Stätten von Paestum und das dazugehörige Museum von Gabriel Zuchtriegel geleitet, einem jungen, in Bonn promovierten Archäologen, dessen berufliche Karriere kaum begonnen hatte, als ihm dieser Teil des Weltkulturerbes anvertraut wurde. Zuchtriegel, heute 37 Jahre alt, ist einer der zwanzig Direktoren großer staatlicher Museen in Italien, deren Stellen, in einem für die italienische Kulturpolitik unerhörten Coup des zuständigen Ministers, damals neu ausgeschrieben und in einem internationalen Wettbewerb neu besetzt wurden - und die Freiheiten erhielten, wie es sie in dem weitgehend bürokratisierten staatlichen Kunstbetrieb des Landes bis dahin nicht gab.

Paestum ist keine unendliche Anlage wie das Stadtschloss von Mantua, es besitzt keinen unermesslichen Schatz an Bildern und Skulpturen wie die Uffizien in Florenz: Die Stätte besteht aus den drei Tempeln und den dahinterliegenden, weitgehend im Boden befindlichen Resten einer erst griechischen, dann römischen Kleinstadt - sowie aus der Sammlung ausgegrabener, vor allem aus Gräbern stammender Gegenstände, die in einem Museum verwahrt werden, dessen Entwurf sichtlich auf den italienischen Faschismus zurückgeht. Paestum muss für einen Museumsdirektor ein schwieriger Ort sein, nicht nur der Lage wegen, abseits der großen Verkehrswege, hundert Kilometer südöstlich von Neapel, sondern vor allem angesichts seiner Offensichtlichkeit: Das Wichtigste meint man schon gesehen zu haben, wenn man noch auf der Landstraße steht.

Diesem Trugschluss kann man auf mehrerlei Wegen begegnen: Einen beschritt Gabriel Zuchtriegel, als er die historische Stätte und das Museum, also zwei im Grunde genommen konservatorische Einrichtungen, mit der Forschung verknüpfte. Seitdem wird in Paestum wieder gegraben: Unter den Fundamenten eines römischen Hauses liegen die Grundmauern eines griechischen Gebäudes, und darin haben die Archäologen, welch seltenes Glück für einen Grabenden, einen Brunnen gefunden. In ihm geht es nun hinunter bis ins sechste Jahrhundert v. Chr., in die Zeit also, in der Paestum gegründet wurde. Außerdem wurde das Depot für Besucher geöffnet, sodass man jetzt nicht nur den Restauratoren bei der Arbeit zuschauen kann, sondern auch eine Vorstellung von der Menge und Vielfalt an Gegenständen bekommt, die Archäologen aus der Erde befördern. Und schließlich sollen die langen Mauern, die Paestum umgeben, wiederhergestellt werden, nicht nur, weil es sie noch gibt, wenngleich an vielen Stellen eingestürzt, sondern auch, um einen Eindruck von der früheren Größe der Anlage zu vermitteln. Und sie war groß, was wiederum zum Eindruck des Fremden beiträgt.

Vor etwas mehr als fünfzig Jahren, im Juni 1968, fand der italienische Archäologe Mario Napoli im Süden Paestums das Grab eines jungen Mannes. Berühmt wurde es vor allem durch ein Fresko, das die Innenseite der Grabplatte ziert. Darauf sieht man einen "Taucher", einen Mann, der sich, in eleganter Haltung, von einer Art Sprungbrett kopfüber ins Wasser stürzt.

Abgesehen davon, dass kein vergleichbares Gemälde aus der griechischen Antike die Jahrtausende überstanden hat: Das Motiv ist einzigartig, es gibt keinen zweiten "Taucher" im Altertum, und es gibt auch keine Anknüpfung an eine mythische Erzählung, die gemeint sein könnte. Deutungen hingegen gibt es viele. Es mag sich um die Schilderung eines schlichten, körperlichen Vergnügens handeln, oder um das Dokument eines Mysterienkults, also um eine allegorische Darstellung der Passage vom Leben in den Tod: Der junge Mann spränge demzufolge von den Pforten des Hades ins Jenseits.

Der französische Regisseur Claude Lanzmann erkannte in diesem Fresko aus dem frühen 5. Jahrhundert v. Chr. ein Sinnbild des Lebens, das er zum Programm des eigenen Daseins erhob. Als man in Paestum im vergangenen Jahr eine Ausstellung anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Fundes veranstaltete, wurden die wichtigsten Deutungen des Tauchers zwar vorgestellt, bevorzugt aber wurde keine. Die Ausstellung wurde ein Erfolg, offenbar auch, weil man die Besucher an einer nicht nur akademischen Debatte teilhaben ließ, die den zeitlichen und kulturellen Abstand zu den alten Griechen offenbarte. Auch im Bekenntnis zur Unwissenheit liegt eine Möglichkeit, das allzu Offensichtliche zu unterlaufen.

Voraussetzung für solche Vorhaben ist eine relative Stabilität der Verhältnisse. Man müsse sich endlich lösen von der Ökonomie des Notfalls, sagt Gabriel Zuchtriegel. Bis vor einigen Jahren habe diese Wirtschaftsform einen allzu großen Einfluss auf den Umgang mit den historischen Stätten gehabt. An ihrer Stelle müsse eine systematische Konservierung und Restaurierung der Relikte stehen, sodass der teure Notfall gar nicht erst eintreten könne. Während diese Aufgabe, Geld und etwas Planungssicherheit vorausgesetzt, vielleicht als lösbar erscheint, dürfte ein anderer Vorsatz des Direktors schwieriger zu erfüllen sein: die Einbettung der Denkmalstätte und des Museums in die regionale Gesellschaft des italienischen Südens.

Denn wie unterhält man einen "Freundeskreis", wenn es in der Umgebung kaum ein städtisches Bürgertum gibt? Wie findet man private Sponsoren in einer vor allem landwirtschaftlich geprägten Gegend? Was bedeutet eine historische Stätte von Weltgeltung, wenn der benachbarte Nationalpark kaum besucht wird und der regionale, vor allem inneritalienische Badetourismus allein im vergangenen Jahr um ein Drittel schrumpfte? Zu den Tempeln von Paestum fanden 2018 hingegen mehr als 420 000 Besucher, fast die Hälfte mehr als vor drei Jahren. Einmal, im vergangenen Sommer, trat Gabriel Zuchtriegel, den von Scheinwerfern erleuchteten sogenannten Poseidon-Tempel im Rücken, sogar als Pianist auf: in der nächtlichen, eher fantastischen Begegnung einer von Giovanni Piranesi inspirierten Szenerie mit der barocken Harmonielehre.

Niemand sah den "Taucher", als er die Unterseite einer Grabplatte zierte, über zweieinhalb Jahrtausende hinweg. Und wiederentdeckt wurde Paestum erst im 18. Jahrhundert, als man, beflügelt vom Klassizismus, einige Tagesreisen weiter nördlich die verschütteten Städte Pompeji und Herculaneum auszugraben begann. Paestum lag zwar nicht unter Lava und Asche. Aber die Ruinen waren von einer Sumpflandschaft überwuchert, und als man sie zugänglich machte, erblickten sie in doppelter Weise das Licht: nicht nur, weil sie nun als Station in die "Grand Tour" durch Italien eingingen, sondern auch, weil sie gleichsam aus der Nacht der Geschichte zurückkehrten in die Gegenwart.

Tatsächlich dort angekommen sind die Kolosse indessen nie, im Unterschied zu Pompeji etwa, das, weil es dort viel Lebensweltliches und deswegen eher Vertrautes zu sehen gibt, dem Besucher weniger Widerstand entgegensetzt. In dieser ebenso zeitlichen wie räumlichen Unangemessenheit aber liegt der größte Reiz eines Kulturerbes namens Paestum. Gabriel Zuchtriegels Vertrag läuft noch bis zum Ende dieses Jahres. Vielleicht wird er verlängert, vielleicht nicht.

© SZ vom 08.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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