"Was Nina wusste":Familienaufstellung mit Dämonen

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Weil die Mutter standhaft blieb, brachte Titos Geheimpolizei sie auf eine Gefängnisinsel. David Grossman erzählt von einem Trauma über drei Generationen hinweg.

Von Alex Rühle

Jugoslawien 1951, nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin. Ein treuer Tito-Anhänger wird wegen "stalinistischer Umtriebe" verhaftet und bringt sich im Gefängnis aus Verzweiflung um. Daraufhin wird seine Frau vom Geheimdienst erpresst: "Entweder Sie unterschreiben, dass Ihr Mann ein Verräter war oder Sie kommen ins Gefängnis." Die Frau weigert sich. Der Offizier zieht die Schraube weiter an: Sie habe doch eine sechsjährige Tochter. Wenn sie unterschreibe, bekomme sie die Pension ihres Mannes und könne mit dem Geld ihr Kind erziehen. Falls nicht, lande sie im Gefängnis und ihre Tochter auf der Straße. Die Frau sagt: "Mein Mann war kein Verräter, ich unterschreibe nichts."

So kam die jüdische Jugoslawin Eva Panić-Nahir auf die Gefängnisinsel Goli Otok, wo sie 19 Monate Zwangsarbeit und Folter durchlitt; ihre Tochter aber landete tatsächlich auf der Straße. Weshalb der Moment der heldenhaften Loyalität ihrem toten Ehemann gegenüber gleichzeitig zum Moment des Verrats an ihrer lebenden Tochter wurde - und zum Quell transgenerationellen Leidens. Dennoch sagte Panić-Nahir, die nach ihrer Haftentlassung nach Israel auswanderte, bis ins hohe Alter: Ich würde es wieder so machen. Wäre ich eingeknickt, ich hätte mich und meine Tochter danach aus Scham umbringen müssen.

Diese wahre Geschichte bildet den Schmerzkern des neuen Romans von David Grossman, der befreundet war mit Eva Panić-Nahir und im Nachwort schreibt, es sei unmöglich, diese Frau "nicht zu lieben und nicht über ihre Kraft zu staunen. Aber manchmal war es auch schwer, nicht gegen ihre undurchdringliche Starrheit anzubranden. Sie wollte, dass ich ihre Geschichte und die ihrer Tochter aufschreibe".

Vera ist das Kraftzentrum ihrer Familie, sie ist humorbegabt, lebenszugewandt, radikal ehrlich

Nun ist es immer eine knifflige Sache, ein Leben in Romanform wiederzugeben. Wo ist es sinnvoll, Wahrheit in Dichtung zu überführen, also dazu zu erfinden oder umzudichten? Wo ist es besser, einfach nur aufzuschreiben, was war. Gleichzeitig natürlich: Wer weiß schon, was wirklich war?

In diesem Falle kommt hinzu, dass Eva Panić-Nahirs Leben bereits mehrfach erzählt wurde: 1989 lernte der jugoslawische Autor Danilo Kiš sie kennen und wollte sofort ein Buch über sie schreiben. Er starb während der Recherchearbeit, die langen Videogespräche der beiden wurden aber zu dem Film "A Naked Life" montiert, der den Jugoslawen nach Jahrzehnten der Geschichtsklitterung erstmals vor Augen führte, was für ein grauenhafter Ort Titos Gefangeneninsel Goli Otok war.

Überreste des Gefängnisses auf der kroatischen Insel Goli Otok, hierher reisen die drei Frauen in Grossmans Roman. (Foto: imago images/Pixsell)

2003 dann entstand der berührende Film "Eva - a documentary", der auf Youtube frei verfügbar ist. Darin begleiten die Filmemacher Avner Faingulerent und Macabit Abramzon Eva Panić-Nahir, ihre Tochter und ihre Enkelin nach Jugoslawien und auf jene Insel zurück, über die die Enkelin bei Grossman sagt: "Ich kenne Goli Otok, als wäre ich da geboren. Ich könnte dort Touristen herumführen. Für eine Arbeit über die Wurzeln unserer Familie hab ich schon in der siebten Klasse ein Modell von der Insel aus Karton gebaut."

Grossman stellt diese Reise in den Mittelpunkt seines Romans, gibt aber, um von vornherein zu zeigen, dass er das Ganze fiktionalisiert, den drei Frauen neue Namen: Es beginnt an Veras 90. Geburtstag, der im Kibbuz groß gefeiert wird. Sie hat in Israel wieder geheiratet, aus wenigen Szenen wird deutlich, dass diese lebenszugewandte, humorbegabte, radikal ehrliche Frau das Kraftzentrum ihrer Familie ist. Es ist ein herzliches Miteinander, gleichzeitig spürt man von der ersten Seite an, dass im Untergrund tektonische Kräfte walten, die jederzeit zu schweren Erdbeben führen können: Nina, Veras Tochter, ist ebenfalls zu der Feier gekommen. Sie, die verraten wurde um des toten Vaters willen, hat das Verhalten ihrer Mutter insofern wiederholt, als sie nach der Geburt ihrer eigenen Tochter Mann und Kind nicht nur verlassen hat, sondern untergetaucht ist. Seither irrlichtert sie durch die Welt, hat sich immer wieder von Männern gezielt missbrauchen lassen und lebt mittlerweile am Polarkreis. Jetzt ist sie, die Abwesende im Familienpuzzle, plötzlich wieder da und erzählt, dass sie an Alzheimer erkrankt ist. Oje, denkt man da erstmals, auch das noch.

Gili, Veras Enkelin und Ninas Tochter, ist Dokumentarfilmerin und Erzählerin des Buches und schafft es, Mutter und Großmutter zu der gemeinsamen Reise zu überreden. Sie will das Ganze mit der Kamera festhalten und hofft auf kathartische Klärung, schließlich ist auch sie schwer gezeichnet, fühlt sich verraten und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Außerdem kommt noch Gilis Vater mit, der, jetzt bitte festhalten, gleichzeitig der Stiefsohn von Vera ist und immer gehofft hat, Nina durch seine Liebe vor den Dämonen der Vergangenheit retten zu können.

Familientechnisch ist das also alles gelinde gesagt vertrackt. Andererseits ist David Grossman literarischer Experte für komplexe Biografien. Außerdem hat er in vielen seiner Bücher ein untrügliches Gespür für die wechselseitige Durchdringung von Privatleben und Geschichte, von autonomer Freiheit und biografischem Zwang bewiesen. In "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (2009) schickte er eine Frau auf eine Reise quer durch Israel und zugleich quer durch ihr eigenes Leben: Ora, Mutter zweier Soldaten, begibt sich darin auf Wanderschaft, um der permanent drohenden Nachricht vom Tod eines ihrer Söhne zu entgehen. Während er dort aber en passant ein breites historisches Panorama auffächert, während sich Oras Biografie im Text so elegant in die Geschichte Israels einfügt wie der schmale Wanderweg in die galiläische Landschaft, in der sie siebenhundert Seiten lang unterwegs ist, wirkt "Was Nina wusste" wie eine Familienaufstellung vor extrem kargen historischen Kulissen. Goli Otok, "die kahle Insel", wird natürlich eindringlich beschrieben. Aber das Nachkriegsjugoslawien, die paranoide Atmosphäre während der "Säuberungs"-Phasen, die komplexe Gemengelage in dem Vielvölkerstaat, all das wird höchstens in Bezug auf die Familie erwähnt, und auch dann immer nur ansatzweise.

Liebe auf den ersten Blick und weit über den Tod hinaus: Eva Panic-Nahir am Tag ihrer Hochzeit. (Foto: Copyright © Yarmut Productions Ltd.)

Etwas anderes irritiert noch mehr. Pars pro Toto kann man das am zentralen Besuch auf der Insel zeigen, der bei Grossman inmitten eines aufziehenden Unwetters stattfindet. "Wir schwankten mit dem Boot. Wind peitschte uns ins Gesicht, die Luft stank nach totem Fisch." Während der finalen Aussprache geht dann sintflutartiger Regen über der Insel nieder. Im Dokumentarfilm dagegen sieht man, wie die Frauen Goli Otok bei ruhiger See und herrlichem Sonnenschein besuchen.

Nun steht es einem großen Romancier selbstverständlich frei, Dinge neu zu erfinden. Die Szene ist nur symptomatisch für verschiedene überflüssige Dramatisierungen. Das Leben von Eva/Vera, ihr Mut, als Jüdin einen orthodoxen Serben zu heiraten; die unbedingte Liebe zu diesem Mann, mit dem sie in ihrer Partisanenzeit 1500 Menschen vor dem Holocaust gerettet hat; die qualvoll offene Frage, ob sie nicht ihrer Tochter gegenüber die Verantwortung gehabt hätte, pragmatisch zu lügen; die Zeit im Folterlager, in dem sie niemanden denunzierte; das transgenerationale Trauma, das durch das Leben aller drei Frauen gefahren ist, all das ist so stark. Warum dazu solche hollywoodesken Effekte?

"Nein, warte, lass mich das erklären." - "Halt, nur kurz, einen Moment."

Grossman findet immer wieder wunderbare Bilder. Als die vier Reisenden einmal gemeinsam auflachen, alle spontan und doch verhalten, weil sie wissen, dass sie gerade wieder in einem innerfamiliären Minenfeld unterwegs sind, schreibt er über das schiefe Gelächter: "Wir klingen wie ein Quartett, das vor dem Konzert seine Instrumente stimmt." Das Bild könnte man weiterspinnen: Grossman ist ein großer Stimmenimitator. Es gibt Bücher, da könnte man danach schwören, man habe die darin sprechenden Menschen wirklich gehört. "Tausende von Minuten, Stunden, Tage, Millionen Dinge, unendlich viele Versuche, Fehler, Gespräche - das alles, um einen einzigen Menschen zu bilden", heißt es in "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Dort gelingt ihm genau das. Er hält dem Staub aus Alltag und Gedankenmurmeln, aus Arbeit, Essen, Liebe, Schweigen sein Textsieb hin und sammelt darin so lange einzelne Partikel, bis man glaubt, Oras Stimme zu hören. Hier dagegen schleicht sich ab und an ein falscher Ton ein. Das liegt gewiss nicht an Anne Birkenhauer, Grossmans getreuer Übersetzerin, die auch diesmal wieder alle Register beherrscht. Alleine ihre Art, Veras kroatisch geprägtes Ivrit in ein knatternd herzhaftes Deutsch zu übertragen, ist so witzig wie anrührend.

Der zuweilen falsche Quartett-Ton rührt eher von der Konstruktion des Buches her. Schließlich wissen ja alle Beteiligten um den Ursprung ihrer Versehrtheit. Im Text aber werden um der Dramaturgie willen wesentliche Punkte immer noch weiter herausgezögert. "Nein, warte, lass mich das erklären." "Ich will dir mal was sagen, aber lass mich ausreden." "Halt, nur kurz, einen Moment." Solche Sätze sollen dem Ganzen eine vorwärtsdrängende Unbedingtheit geben, sie tauchen aber derart oft auf, dass man den Frauen irgendwann zurufen möchte: Hört mal, ihr wisst das noch nicht, aber Grossman gibt euch 351 Seiten Platz, Ihr habt alle Zeit der Welt, einander einfach alles in Ruhe zu erzählen.

Am seltsamsten wirkt aber, dass Nina, die Titelfigur, im Roman ein Lebenswrack ist, das nun auch noch darum weiß, dass es sich bald schon im Vergessen auflösen wird. Tiana, die echte Tochter, die als Goldschmiedin in den USA lebt, wirkt in dem gerade mal einstündigen Dokumentarfilm geerdeter, ruhiger, normaler und in ihrem leisen, zärtlichen Verzeihen ihrer Mutter gegenüber fast interessanter als Grossmans tragische Drama-Queen.

David Grossman : Was Nina wusste. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, München 2020. 352 Seiten, 25 Euro.

© SZ vom 28.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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