Vorschlag-Hammer:Wer krakelt, hat mehr vom Lesen

Lesezeit: 2 min

Die einen schreiben Bücher, die anderen kritzeln hinein

Kolumne von Antje Weber

Als Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis erhielt, bekam ich ein Problem. "Herkunft", ein gutes, ein wichtiges Buch, nur - wo war es abgeblieben? In einem Moment der Zerstreutheit hatte ich es, das Wissen ploppte in meinem Hirn auf, tatsächlich verliehen. Was das bedeutet, ist jedem "Asterix"-Leser klar: Weiß doch Verleihnix, der Fischhändler des gallischen Dorfes, nur zu gut, wie sehr die Dinge beim Verleihen leiden. Das ignorieren seine Kumpels allerdings rücksichtslos und kloppen sich immer wieder mit Fischen, die dann in einem sehr schlechten Zustand zu Verleihnix zurückkommen.

"Herkunft" aber ist bis heute nicht einmal in schlechtem Zustand zu mir zurückgekommen. Es ist weg. Wem ich es bloß geliehen habe? Die Nachfrage bei Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden ergab: Niemand will es je in den Händen gehalten haben, nicht mein Exemplar, niemals. Warum also kein neues kaufen? Weil ich "Herkunft" unwiederholbar zu meinem Buch gemacht habe. Weil ich es nicht nur gelesen, sondern Sätze markiert, Ausrufezeichen gekrakelt, Kommentare gekritzelt, Eselsohren geknickt, Eindrücke zusammengefasst habe - was man halt so macht, wenn man sich ein Buch wirklich aneignen will.

Das von mir meistbearbeitete Buch des vergangenen Jahres war zweifellos Jaroslav Rud ' "Winterbergs letzte Reise". Ich halte es zwar - im Vergleich zu konzentrierteren Vorgängern wie "Nationalstraße" - für etwas geschwätzig. Doch es ist das Buch, das mein Leben in diesem Jahr am auffälligsten beeinflusst hat: Anhand von Rudiš' Schilderungen böhmischer Orte und Geschichte bin ich im Sommer tatsächlich durch Tschechien gereist. Dagmar Leupolds neuer Roman "Lavinia" hingegen, um ein ganz anderes Beispiel zu wählen, wirkte auf mich sprachlich etwas sehr gedrechselt, vielfach unterstreichenswert fand ich jedoch ihren "Wutanfall" am Ende, eine furiose Abrechnung mit allen übergriffigen Männern dieser Welt. In Dana von Suffrins Debütroman "Otto" wiederum lässt sich seit der Lektüre sogar (ogott) ein grinsendes Smiley finden.

Bei Comics ist das Markieren schwieriger; in Ken Krimsteins anregender Graphic Novel über Hannah Arendt habe ich es zwar versucht - erfolglos jedoch, da nicht mehr auffindbar. Sichtbare Ausrufezeichen säumen dagegen Volker Brauns Band "Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende", anlässlich seiner Literaturfest-Lesung kürzlich wieder hervorgekramt. "Es ist eine ernste Zeit des eben Möglichwerdens und gerade Vertuns", sagte er 1990 zum Beispiel, luzide wie so oft. Auch der Dadaist Richard Huelsenbeck war einst so einer, der schärfer als andere das Möglichwerden und das Vertun voneinander scheiden konnte. Seinen ätzend bösen Erinnerungen, von Herbert Kapfer in "1919" aufgegriffen, sollen Bleistift- und Kugelschreiberstriche gleich mehrfach Nachdruck verleihen.

Selbst Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, versuche ich offensichtlich zu markieren: Zu Margaret Atwoods Klassiker "Der Report der Magd" zum Beispiel, den ich endlich nachlesen möchte, habe ich bereits Zeitungsartikel gesammelt und hineingelegt - old school, ja, aber praktisch. Eines jedenfalls ist sicher, bei diesen und anderen Büchern; es gibt da einen ersten, unumstößlichen Vorsatz fürs nächste Jahr: Verleih nix!

© SZ vom 20.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: