Vor der Bücherwand:Kafka in Las Vegas

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Die Eltern hatten wenig mit Büchern zu tun, aber sie glaubten, "dass Bücher ihnen ihre Hemmungen nehmen würden". Ihr Sohn, der englische Dramatiker Alan Bennett, berichtet von seinem Leben als Leser.

Von Willi Winkler

Schriftsteller sind selten gute Rezensenten, die Lust am Text wird schnell durch Neid und Missgunst gehemmt. Die kürzeste und sogar zutreffende Literaturkritik stammt trotzdem von Arno Schmidt und lautet: "Benn schwätzt." Alan Bennett ist etwas ausführlicher. Nach dem Tod des Philosophen Isaiah Berlin notiert er im Tagebuch: "Ich habe nie verstanden, warum er ein so hohes geistiges Ansehen genoss. Sein Schreiben ist geschwätzig und langatmig." Dann jedoch sieht er ihn wenige Tage später zum ersten Mal im Fernsehen, wie ihm "die Worte aus dem Mund quellen wie einem aufstoßenden Baby das Essen", und muss sein Urteil revidieren: "Es wäre wohl unmöglich gewesen, ihn nicht zu mögen." Mit Jorge Luis Borges verbindet ihn der Kummer, "nie das vollkommene Buch geschrieben" zu haben.

Bennett hat vielleicht nicht das vollkommene Buch geschrieben, aber er ist einer der bekanntesten englischen Dramatiker. In dieser Sammlung von Lektürenotizen, Rezensionen und Aufsätzen wird der Leser in intimste Dinge eingeweiht. Einmal habe er in kurzen Hosen und mit bloßem Oberkörper zu schreiben versucht, und ist doch gescheitert. Er nehme an, analysiert sich der Autor selber, dass er das Schreiben "als eine Art Entkleidung betrachte, vielleicht sogar als Striptease, und wenn ich schon ausgezogen anfange, kann ich nirgendwo mehr hin".

"Der Beruf des Schriftstellers ist kein geselliger", sagt er und erzählt nebenher seine Lesensgeschichte, die eine eigene Liebeserklärung bildet. Seine Eltern hatten wenig mit Büchern zu tun hatten - der Vater war Metzger -, aber sie glaubten, "dass Bücher ihnen ihre Hemmungen nehmen würden", ihnen die gesellschaftliche Anerkennung bringen würden, was aber erst dem Sohn gelang.

Für die Mutter waren Bücher Arbeit, sie störten den Blick, im Elternhaus mussten sie verräumt werden. Deshalb, so bemerkt er im Rückblick, habe er unbewusst in seine Drehbücher und Theaterstücke jeweils eine Szene eingebaut, in der jemand vor einer Bücherwand steht. Und deshalb setzte sich Bennett auch für die Erhaltung öffentlicher Büchereien ein. "Für ein Kind in einer Hochhauswohnung, in der Raum Mangelware sowie Ruhe und Frieden nicht leicht zu finden sind, kann eine Bibliothek eine Zuflucht sein."

Mit seiner fröhlichen Schwermut hätte aus Kafka ein Bühnenkomiker werden können

"Ich bin aber auch ein kleinlicher Leser", schimpft er sich nicht ganz ernst, nennt Bruce Chatwin einen Snob und bezeichnet dessen Bücher als Kitsch. Kleinlich ist er, aber manchmal sogar unheimlich genau. Chatwin schreibt, dass er in der Moschee in Isfahan "mit untergeschlagenen Beinen" sitzt. Bennett könnte das nicht, "weil ich nur fünf Minuten so sitzen könnte, ohne zum Krüppel zu werden. Warum erzählt er uns das?" Wie genau er als Literaturkritiker sein kann, beweist er mit einer Beobachtung, die er bei W. G. Sebald macht: Es ist dessen Begabung, die Landschaft, die er besucht und beschreibt, sofort zu entvölkern. Immer ist sie menschenleer. "Bei meinen vielen Besuchen", zitiert er Sebald, "habe ich niemals jemanden angetroffen" und fügt an: "Tatsache ist, dass bei Sebald niemals jemand anzutreffen ist. Das mag poetisch sein, aber mir kommt es wie eine Abkürzung in Richtung Bedeutsamkeit vor." Hilary Mantels Roman "Wölfe", den ersten Teil der Cromwell-Trilogie, liest er mit Bewunderung, und dann wieder dieses Detail: "Zwar stehen auf Cromwells Schreibtisch Kornblumen, aber dies ist ein Roman über Folter, Tyrannei und Tod."

Das ist, was sonst, auf die Pointe hingeschrieben. Bennett hat ein berühmtes Stück über die Kafka-Exegese, die Kafka-Nachfolge, die Kafka-Philologie verfasst, "Kafkas Franz". Es spricht für den von Klaus Wagenbach, der "dienstältesten Kafka-Witwe", gegründeten Verlag, dass er diese Bemerkungen auch für weniger souveräne Kafka-Leser überliefern kann. Elias Canetti würde Kafka annektieren, tadelt Bennett, "zur Steigerung der eigenen Stringenz". Er selber möchte Kafka von Kafka befreien und stellt ihn sich als Engländer vor. "Mit seiner fröhlichen Schwermut hätte ein jüdischer Bühnenkomiker aus ihm werden können. Kafka in Las Vegas." Kafkas Leben fasst er in eine Anekdote von Henscheidscher Kürze: "Vater: Sohn, du hasst mich. Sohn: Vater, ich liebe dich. Mutter: Widersprich deinem Vater nicht."

Aus seiner Kafka-Beforschung hat Bennett sogar einen nützlichen Hinweis für die Corona-Krise gewonnen. "Steckte man ihn in eine hübsche, freistehende Villa, hätte er nie ein Wort geschrieben." Quarantäne hilft. In neun Monaten kommen vielleicht nicht mehr Babys zur Welt, aber dafür zwei, drei gute Bücher.

Alan Bennett : Der souveräne Leser. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach 2020. 144 Seiten, 18 Euro

© SZ vom 24.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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