Videokolumne "Mediaplayer":Außerirdische im Anflug

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Wollen Aliens nicht immer alle entführen? Sierra McCormick als Fay. (Foto: AP)

Alles in dunklen Bildern: Andrew Pattersons Film "Die Weite der Nacht".

Von Nicolas Freund

In der Zukunft, im Jahr 2000, soll es nicht nur rasende Züge in Vakuumröhren und selbstfahrende Autos geben, sondern auch Kombinationen aus Fernseher und Telefon, die jeder in seiner Tasche mit sich herumträgt. Behauptet zumindest die junge Fay, sie hat das in Zeitschriften gelesen. Everett ist skeptisch, aber er ist ja auch Radiomoderator, also Journalist, und glaubt deshalb erst mal gar nichts. Fay und Everett wohnen in der erfundenen Kleinstadt Cayuga in New Mexico, nahe der Grenze. Es sind die Fünfzigerjahre, die Autos und Brillen sind riesig und jederzeit, fürchtet man, könnten die Sowjets einmarschieren.

In langen Einstellungen folgt die Kamera Everett und Fay durch den Ort, wo an diesem Abend Ausnahmezustand herrscht, zumindest im Maßstab der Kleinstadt, denn in der High School findet ein Basketballspiel statt. Die beiden schauen aber nicht zu, sie müssen arbeiten, er beim Radio, sie als Telefonistin. Erst probieren die beiden noch Fays neues Aufnahmegerät aus, das sie vielleicht auch gekauft hat, um es mit Everett gemeinsam auszuprobieren, dann schlendern sie durch die leergefegten Straßen und reden über die Zukunft und bloß nicht darüber, was sie voneinander denken. Sierra McCormick und Jake Horowitz spielen dieses verhuschte Pärchen so liebenswürdig, dass man ihnen auch 90 Minuten beim Abendspaziergang zuschauen könnte, was aber schon deshalb nicht möglich ist, weil etwas passieren muss, das die utopische Sehnsucht der beiden befriedigt. Denn ewig, da sind sie sich einig, wollen sie nicht in Cayuga bleiben.

Regisseur Andrew Patterson finanzierte "Die Weite der Nacht" selbst und bewarb sich bei den großen Filmfestivals, die alle ablehnten. Premiere hatte der Film schließlich im vergangenen Jahr beim kleinen Slamdance Film Festival, wo er einen Publikumspreis gewann und die Aufmerksamkeit von Steven Soderbergh erregte. In einem Interview mit der Los Angeles Times sagte Soderbergh, man sehe selten, dass ein Regisseur bei seinem Debüt so souverän mit der Erzählung, mit dem Schauspiel und der Kamera umgehe. Selbst wenn die Kamera ohne Schnitt durch die Stadt fährt, in die Turnhalle, wo das Basketballspiel läuft, und wieder nach draußen in die Nacht, versteckt sich diese Virtuosität sympathisch hinter dem Understatement des Films, der mit einer Handvoll Schauspieler und Schauplätze auskommt, alles in dunklen Bildern erzählt und fast ein Hörspiel sein könnte.

Fay und Everetts Flirt wird in dieser Nacht von einem eigenartigen Signal gestört, das aus dem Äther in die Telefonkanäle dringt. Woher kommt dieses komische Wummern und Klacken? Everett sendet das Signal kurzerhand im Radio und sofort meldet sich eine Stimme am Telefon, die Billy genannt werden möchte. Er kenne das Signal aus seiner Zeit beim Militär. Es komme von denen da oben, den Leuten im Himmel. Sind Fay und Everett einer außerirdischen Verschwörung auf der Spur? Heute grassiert in New Mexico die Angst vor Drogenkartellen und illegalen Migranten, damals dachte man, in der Einsamkeit der Wüste fühlten sich Ufos besonders wohl.

Der Film lässt das mit den Aliens lange offen, denn es geht ihm genau um diesen unsicheren Zustand: Gerüchte, Missverständnisse, Vermutungen, die zwischen den Einwohnern zirkulieren, werden im Radio und über das Telefon verbreitet. Man mag sich gar nicht vorstellen, was in Cayuga los wäre, wenn es soziale Medien gäbe. Obwohl der Film seine Fünfzigerjahre-Kulisse auskostet, verweist er auf die Gegenwart, auf Sexismus und Rassismus, wenn Fay dumme Witze über sich ergehen lassen muss und keine Chance sieht, ein College zu besuchen; wenn Billy, der einzige Schwarze in dem Film, nie zu sehen ist, sondern ein unsichtbarer Mann bleibt, wie in dem gleichnamigen Roman von Ralph Ellison; wenn die Kommunisten als große Bedrohung heute albern erscheinen, die amerikanischen Ängste sich aber in den letzten 70 Jahren doch nicht grundlegend geändert haben. Noch immer könnte da draußen alles lauern, in den Radiowellen, jenseits der Grenze oder im Wald nebenan. Aber muss man davor Angst haben? Smartphones und selbstfahrende Autos gibt es heute, aber warum scheint es, als habe die utopische Vorstellungskraft mit ihnen aufgehört und nicht auch eine neue Gesellschaft herbeigeträumt?

The Vast of Night, bei Amazon Prime Video.

© SZ vom 15.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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