Das ist ein Tod, der schmerzt. Roger Willemsen ist mit 60 Jahren gestorben, das ist heutzutage sehr jung. Und er hinterlässt eine Lücke. Denn er gehörte auf sehr eigene Weise einer Spezies an, mit der Deutschland nicht im Übermaß gesegnet ist. Er war ein public intellectual, ein öffentlicher Intellektueller, der viel reiste und in vielen Medien herumkam, im Radio Dauergast war, das Fernsehen nicht scheute und Bücher schrieb, auf Podien saß, Gala-Moderationen und Schirmherrschaften übernahm, eine hohe, große Gestalt, die manchmal zu schweben schien, aber nie die Bodenhaftung verlor.
Den Möglichkeitssinn und die Fähigkeit, auch mal Urlaub vom Leben zu nehmen, hatte er sich aus Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ausgeliehen. Über Musil hatte Willemsen in den frühen 1980er Jahren in München seine Dissertation geschrieben, "Das Existenzrecht der Dichtung". In der alten Bundesrepublik war er geboren, 1955 in Bonn, und er war in ihr groß geworden, die Prägungen seiner Generation hat er nie verleugnet, ohne sie demonstrativ vor sich her zu tragen.
Als er 1991 beim Bezahlsender Premiere seine Fernsehkarriere begann, mit der Interviewreihe 0137, wurde das so eine Art Gesellschaftsroman der Gegenwart in O-Tönen, mit Prominenten aus Kunst und Kultur. Aber es gehörten eben auch die Inhaftierten aus der RAF zu seinen Interviewpartnern. In das Ideal seiner späteren Talkshows, ob sie Willemsens Woche hießen oder Willemsens Zeitgenossen, ging das Salon-Ideal ein. Und die Erkenntnis, dass er in der vielfältigen Medienwelt, in der er nun agierte, einen Markenkern brauchte. Er gewann ihn aus zwei großen Leidenschaften: aus der Literatur und aus der Jazz-Musik, der er in seinen Sendungen über und mit dem Pianisten Michel Petrucciani zu einem Publikum außerhalb der Jazzkeller und der fingerschnippenden Kennerschaft verhalf.
Er scheute die High-Brow-Anmutung nicht
Er kleidete diesen Markenkern gern in Nadelstreifen, weil er weder das Anachronistische noch die High-Brow-Anmutung scheute. Zum leicht angelsächsisch Getönten dieses Nadelstreifen-Outfits gehörte die Wachheit im Politischen. Das mochte manchmal aussehen wie Medienkritik, wenn er etwa, wie im Frühling 2009, mit ätzender Polemik gegen Heidi Klums Germany's Next Topmodel in die Schlagzeilen geriet. Es war aber eine politische Leidenschaft, die mit den Jahren immer stärker hervortrat und seine Reisen ebenso prägte wie seine Reportagen.
So entstanden die Interviews mit Ex-Häftlingen unter dem Titel "Hier spricht Guantánamo" (2006) und die "Afghanische Reise" (2006), aus der später sein Buch über - und sein Engagement für - die Kinder Afghanistans erwuchs. Für sein letztes Buch saß er ein Jahr lang auf der Zuhörertribüne des Deutschen Bundestages. "Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament" (2014) ist eine Langzeitreportrage zum Zustand der Demokratie in Deutschland - und eine Bestandsaufnahme zur Krise der öffentlichen Rede. Der Mann, der mit dazu beigetragen hat, die Talkshow zu einem Normalformat im deutschen Fernsehen zu machen, schrieb nun ein großes, manchmal zum Abgesang werdendes Plädoyer für das Parlament als Ort der Politik.
Warum er die Bodenhaftung nie verlor? Wohl weil er seine wissenschaftliche Herkunft, die philologisch genaue Erkundung von Wörterwelten, nie vergaß. Es steckte ein Gelehrter in ihm, der die Gelehrsamkeit auf die öffentlichen Plätze bringen wollte, und der große, extensive Leser, der er war, steckte auch in dem Reisenden Willemsen. Das Buch "Die Enden der Welt" (2010), in dem er von seinen Reisen erzählte, war ihm eines seiner wichtigsten. Schon nach wenigen Seiten steht darin das "Ich" des Reisenden in seinen Umrissen da. Es ist unverheiratet, ungebunden, jederzeit zum Aufbruch bereit, und wie sich en passant zeigen wird, mit Geld so gut ausgestattet, dass von der Finanzierung seiner Reisen keine Rede sein muss.
Fortwährende Verjüngung - bis zum Tod
Eine der Frauen, die nie für lange Zeit an die Seite dieses "Ichs" treten, liest Bruce Chatwins Buch Traumpfade. Aber Willemsen rivalisierte nicht mit Chatwin, er begegnete ihm nur. Er wollte für sein "Ich" einen eigenen Anzug, einen gut sitzenden Stil. Und das gelang ihm. Und wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, ging er nicht nur an ein neues Radio- oder Fernsehprojekt. Er kam auch regelmäßig seiner Aufgabe als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin nach.
So verjüngte sich der Musil-Forscher fortwährend im Umgang mit Studenten. Und er wäre noch viel jünger geworden, hätte ihn der Krebs-Tod nicht viel zu früh ereilt.