USA:Einer ist noch da

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Zu seinem hundertsten Geburtstag hat sich Lawrence Ferlinghetti, der wichtigste Propagandist der Beat Generation, selbst einen autobiografischen Roman geschenkt

Von Willi Winkler

So berühmt ist er, dass ihn Bob Dylan in San Francisco auf die Bühne holte, 1976, beim legendären Abschiedskonzert von The Band an Thanksgiving. Lawrence Ferlinghetti erschien mit Charlie-Chaplin-Melone und im Arbeiterhemd, der common man persönlich, sagte ein blasphemisches Vaterunser auf, bei dem das Publikum nicht recht wusste, was es davon halten sollte, und schon verschwand der Dichter wieder im Bühnendunkel.

Aber er ist nie verschwunden, er war immer da, eine echte Jahrhundertfigur, und hat inzwischen selbst den Kollegen George Whitman überrundet, den Inhaber der Pariser Buchhandlung Shakespeare & Co. So ist er zum Stammvater der Moderne geworden: Als Allen Ginsberg 1955 zum ersten Mal aus "Howl" las, als der weinbefeuerte Orpheus die neuen amerikanischen Urworte erfand ("I saw the best minds of my generation destroyed by madness"), schickte ihm Ferlinghetti ein sorgfältig formuliertes Telegramm, ein Zitat, das noch einmal Literaturgeschichte machen sollte. "Ich grüße Dich am Beginn einer großen Laufbahn", schrieb er und verlangte gleich das Manuskript. Das Buch erschien in seinem City-Lights-Verlag, Ferlinghetti wurde verhaftet, es folgte einer dieser legendären Prozesse wegen Obszönität (das demotische Wort "fuck" hatte in "Howl" Verwendung gefunden, und eine vorwiegend homosexuelle Verkehrsmethode wurde ekstatisch besungen), aber dann siegte die Kunstfreiheit. Der Richter erkannte die "heilbringende gesellschaftliche Relevanz" von "Howl", doch bis heute kann dieses Langgedicht in keinem amerikanischen Sender ohne rhetorischen Pariser vorgetragen werden.

Ohne selber einer zu sein, wurde Ferlinghetti der wichtigste Propagandist der Beats und blieb dabei ein pflichtbewusster Geschäftsmann, der pünktlich zum Abendessen nach Hause kam, keine Drogen brauchte und sogar William Burroughs' "Naked Lunch" ablehnte, weil es ihm zu anarchistisch, zu wirr, zu verdrogt war.

Ferlinghetti steckte Jack Kerouac in seine eigene Hütte in Big Sur, aber nicht, damit er endlich loskam vom Saufen, sondern um ein weiteres seiner heilig-nüchternen Bücher zu schreiben; "Big Sur" entstand in zehn Nächten auf Benzedrin, Alkohol gab es erst danach wieder. Paul Bowles, Charles Bukowski, James Purdy, Sam Shepard hat er verlegt, eine ganze alexandrinische Bibliothek der amerikanischen Neuzeit ist da in sechzig Jahren zusammengekommen. Sogar Brecht hat er herausgebracht, den Sohn Stefan Brecht, Erotisches, aber auch Elegisch-Unbrechtisches, amerikanisch fast: "Ich war glücklich, scheint es, wenn ich meine Zeit/ unversehens verlor, wartend oder schaukelnd,/ in Bewegung ruhend".

Wie jeder Dichter seit Goethe hat Ferlinghetti viel zu viele Gedichte geschrieben

Ferlinghetti hat tatsächlich erlebt, wie die best minds seiner Generation kaputtgingen: Neal Cassady verreckte 1968 elendiglich, Kerouac platzte im Jahr darauf die Leber, Richard Brautigan erschoss sich 1984. Burroughs und Ginsberg hielten bis 1997 durch, Gregory Corso, Lucien Carr, Dennis Hopper, die ganzen modernen Heiligen, alle, alle sind sie tot. Nur ihr Meisterschüler Bob Dylan ist noch da.

Und Lawrence Ferlinghetti.

Die großen Namen haben den seinen oft verdeckt, dabei ist Ferlinghetti selber einer der erfolgreichsten Dichter Amerikas. Sein Band "Coney Island of the Mind" (eine Art "Zirkus der Seele") hat sich seit 1958 mehr als eine Million Mal verkauft. In Julio Cortázars "Rayuela" schreibt der avantgardistische Schriftsteller Morelli "mit roter Tinte und sichtlichem Vergnügen" die letzten Zeilen aus der zehnten Stanze ab. Es ist ein verrücktes, dabei ganz selbstverständliches, nämlich ausschließlich ästhetisches Manifest: "Yet I have slept with beauty / in my own weird way / and I have made a hungry scene or two / with beauty in my bed / and so spilled out another poem or two / and so spilled out another poem or two / upon the Bosch-like world". (Und doch hab ich auf meine krumme Art mit der Schönheit geschlafen / hab ein, zwei wilde Szenen gemacht / der Schönheit in meinem Bett / und so ein, zwei Gedichte rausgestoßen / ein, zwei Gedichte rausgestoßen / in diese Welt von Hieronymus Bosch)

Ein paar mehr waren es doch. Wie jeder Dichter seit Goethe hat Ferlinghetti viel zu viele Gedichte geschrieben, sie flossen ihm nur so aus der Feder, free verse, das kommt vom lebenslangen Lotterbett. Er konnte es sich sogar leisten, mit 97 noch einmal zu debütieren. Da hat er erotische Gedichte unter dem Pseudonym Lorenzo Chiera veröffentlicht und sie als seine Übersetzung eines naturgemäß völlig unbekannten Poeten aus dem 14. Jahrhundert ausgegeben.

"Und Liebe was ist Liebe / und Herz was ist Herz", tiriliert er mit Minnesangs Frühlingsgefühl bereits in seinem ersten Gedichtband, "wenn wir nicht denken, dass sie existieren / Die abgefallene Blüte wird's uns nicht sagen / mag sie auch geformt sein wie ein Herz / kopfunter und spröde wie ein Blatt". Ein Dichter sollte keine Gedichte, sondern lebendige Zeitungen fabrizieren, hat er verkündet, sollte "ein Reporter aus dem All sein, seine Berichte an einen obersten Chef vom Dienst schicken, der an völlige Ehrlichkeit glaubt und dem man nicht mit irgendeinem Blödsinn kommen kann".

"Die Welt ist ein wunderschöner Ort/um hineingeboren zu werden/wenn man nichts dagegen hat, dass Glück/nicht immer so arg viel Spaß macht"

Das reportierende Dichten ist ihm immer leichtgefallen, alles kann ihn zum Vers reizen. Ferlinghetti verzaubert sich die rohe Welt, indem er sie fromm besingt. Schläft ein Lied, so weckt er es: "Die Welt ist ein wunderschöner Ort/um hineingeboren zu werden/wenn man nichts dagegen hat, dass Glück/nicht immer so arg viel Spaß macht".

Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist ihr schon in die Falle gegangen. So in dem ewigen Traum, dass von irgendwo die unbekannte Geliebte erscheine, ein einziges haltloses Versprechen: "Wow I says / Only the next day / she has bad teeth / and really hates / poetry". Denn darum geht es doch, Poesie zur Rettung der Welt. (Sie braucht es.)

Zum hundertsten Geburtstag hat sich Ferlinghetti ein Buch geschenkt, "Little Boy", das trotz des Titels alles Mögliche ist, nur keine Autobiografie. Die Kindheit wird immerhin angedeutet, in New York geboren, aber Kinderjahre in Straßburg und Paris mit französischer Gouvernante. Der Vater vor der Geburt gestorben, die Mutter krank, er selber im Waisenhaus, später im Internat oder bei der wenig verlässlichen Tante Emilie: "Sie trug Glockenhüte und das Haar so kurz wie Louise Brooks und immer das gleiche elegante Kleid im Stil der Zwanziger, mit tiefem Dekolleté und langer Perlenkette und immer Kölnisch-Wasser-Duft verströmend."

Ein von Anbeginn beschädigtes Leben, sollte man denken, doch fehlt dem Autor die Geduld, sich in die literarisch vertraute Südstaatenkindheit zu versenken, die Geschichte mit dem holländischen Chauffeur, dem irischen Dienstmädchen, abwesenden Eltern und Geschwistern.

Nie sei er ein Rebell gewesen, schreibt er, sondern Teil der Generation, die in den Zweiten Weltkrieg eintrat und Hitler besiegte. Sie ist sonst verschwunden, diese Generation von Kennedy, von Brandt, Strauß und Schmidt, auch sie alle gestorben. Ferlinghetti war dabei in der Normandie, dann in Nagasaki, wo er die "Landschaften der Hölle" sah und Pazifist wurde. ("Little Boy" war auch der Codename der Atombombe, die auf Hiroshima niederging.) Nach einem Sorbonne-Studium ging er nicht zurück nach New York, sondern ans andere Ende des Kontinents, nach San Francisco, fragte sich dort wie ein Tourist nach dem Boheme-Viertel durch, stieg bei einem Taschenbuchladen ein, der City Lights hieß und mit seinem angeschlossenen Verlag zum Inbegriff moderner amerikanischer Literatur wurde.

Den Laden gibt es bis heute, denkmalgeschützt das ganze Haus. Als Relikt aus uralten Zeiten hat auch er sich hier festgekrallt, während die Immobilien um ihn herum Mondpreise erzielen und nächstes Jahr schon das Doppelte kosten, weil der Buchmarkt schrumpft und die Tech-Industrie immer weiter brummt.

"Und so sitze ich im Caffe Trieste in San Francisco wo sich nichts je ändert Dekade für Dekade ändern die Gesichter sich aber es sind dieselben der Bevölkerung der Welt entnommenen Charaktere und ich bin dort mit meinem fortwährenden Gefährten meinem einsamen Ich und der einzige Plot in diesem Buch von meinem Leben ist mein fortwährendes Altern (...)". Es ist der gute alte stream of consciousness, anspielungsüberreich wie beim mittleren Saul Bellow, und nebenbei muss die Weltliteratur von Plato über Dante und Cervantes abgehandelt werden. Kein Einschlafen also ohne Proust, kein melancholischer Moment ohne Tschechow, kein Schweigen ohne Shakespeare und Beckett.

Wer immer sich unterwirft, Ferlinghetti ist es gewiss nicht

Es fehlt nicht an Kürzestcharakterisierungen der Dichter, die alle viel berühmter wurden als er. Burroughs: "Er war da und zugleich nicht da sogar wenn er im City Lights Bookstore signierte der originalgetreue Schwindler." Ginsburg: "Ginzy hatte eine Schwäche für Heteros wollte sie immer konvertieren." (Die Übersetzung von Ron Winkler ist nicht immer gelungen.) Er ist nicht bloß ein anderer, sondern ganz viele: "Rimbaud und Apollinaire war ich und Baudelaire war ich und Villon war ich und ich war alle durchgeknallten streunenden zerlumpten Dichter (...)".

Wenn er auftaucht aus dieser ozeanisch-kindlichen Formlosigkeit, kann er nur Ironie bemühen: "aber ich hab die Story noch gar nicht wirklich auf Touren bringen können". Die Rezension dazu hat er sich schon vor Jahrzehnten selber geschrieben: "Und mein Buch ist voll / von Blättern und Blüten gepflückt / bevor sie zerfielen/und sie sind geädert und welk / wie das Herz".

Als Dichter, so hat es dieser poetische Reporter immer wieder gesagt, könnte ihm nichts ferner sein als die sogenannte Wirklichkeit. "Im Süßigkeitenladen hinter der Hochbahn / verliebte ich mich / zum ersten Mal / in die Unwirklichkeit", beginnt eins der frühen Gedichte. Der Zauber der süßen, bunten Sachen, dazu eine Katze, die da herumstrolcht, herbstzeitlose Gedanken: "Ein Mädchen kam hereingelaufen / regennass die Haare / die Brüste atemlos in dem kleinen Raum / Draußen fielen die Blätter zu Boden / und schrien / Zu früh! Zu früh!" Zu früh ist jedenfalls nicht zu spät. Ferlinghetti findet die beste Rechtfertigung für ein langes Leben, seit Bismarck die Rentenversicherung eingeführt hat: "Also kehre ich zurück zum Monolog über mein Leben als nicht enden wollender Roman weil ich schlicht nicht weiß wie man ein Leben abschließt." Es ist doch kein geringer Trost, dass einer der Helden so lang lebt, sich nicht tot fährt, nicht mit Aids ansteckt, nicht im Katholizismus oder im Alkohol versinkt und nie seinen Hass auf den Kapitalismus verlernt. Deshalb ist ihm zuletzt auch zu Donald Trump noch ein Gedicht eingefallen, das er für eine jüngere Generation auf Youtube vorträgt: Die Gloriole der Freiheitsstatue hat er sich dafür aufgesetzt, klagt, dass vom Weißen Haus ein neuer räuberischer Kapitalismus ausgehe, der verlangt: "Unterwirf dich, common man, unterwirf dich!"

Wer immer sich unterwirft, Ferlinghetti ist es gewiss nicht, und wahrscheinlich würde er sofort wieder ins Gefängnis gehen, für die Literatur, für seine Gedichte, für Amerika. Reich ist er damit nicht geworden, aber wo steht, dass Gedichte Geld bringen müssen? "Yet I have slept with beauty / in my own weird way (...)", mit der Schönheit schlafen - mehr kann man im Leben nicht erreichen. Am Sonntag wird Lawrence Ferlinghetti, dieser unermüdliche Minnesänger des Lebens, zum ersten Mal hundert Jahre alt.

Lawrence Ferlinghetti: Little Boy. Roman. Aus dem Englischen von Ron Winkler. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2019. 216 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 23.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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