Ukrainisches Tagebuch:Es wächst schon wieder was

Lesezeit: 3 min

Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Ein Besuch im ukrainischen Westen, wo viele Binnenflüchtlinge untergekommen sind: Eine deutsche Politikerin kennt sich hier erstaunlich gut aus.

Wir sind in Czernowitz mit Rebecca Harms unterwegs. Einer Politikerin, der man die Ukraine nicht erklären muss. Für Harms ist die Ukraine kein abstraktes Land irgendwo dazwischen, in der Einflusszone der Russischen Föderation, das aus für manche Westeuropäer nach wie vor nicht nachvollziehbaren Gründen versucht, sich diesem Einfluss zu entziehen. Im Gegensatz zu einigen deutschen Intellektuellen und Politikern, die sich für dieses Land vor dem Angriffskrieg gerade mal so viel interessiert haben, dass sie die Hauptstadt und vielleicht noch den Boxer Vitali Klitschko als Bezüge benennen konnten, ihre weiteren Kenntnisse über die Ukraine speisten sich wohl aus dem russischen Narrativ. Dafür hatten sie jede Menge Lösungsvorschläge für die Ukraine - wie die Aufrufe zum sich Ergeben und "Friedensmanifeste".

Harms hat einen nüchternen, realistischen, keinesfalls verklärenden Blick auf die Ukraine - und auf das gegenwärtige Geschehen. Sie erzählt, wie sie zum ersten Mal 1988 in Kiew war. Damals lernte sie unter anderem Jurij Schtscherbak kennen, der sie nach Tschernobyl begleitete und viel erzählte. Danach ließ dieses Land sie nicht mehr los. Wie viele von den deutschen Intellektuellen würden diesen Namen kennen, frage ich mich. Ein bedeutender Schriftsteller, Mitbegründer der Grünen Partei der Ukraine in den Neunzigern und Autor der ersten Dokumentarerzählung über die atomare Katastrophe "Tschornobyl" (1987).

Die Enkelin hat schon Freunde gefunden und möchte am liebsten bleiben

Die Lage der Flüchtlinge und die Gemeindereform stehen im Mittelpunkt des Interesses von Rebecca Harms. Darüber führt sie Gespräche in der Stadt- und der Regionalverwaltung. S. und ich begleiten sie abwechselnd und dolmetschen. Im Studentendorf erzählt S. über "unsere" Binnengeflüchteten, danach fahren wir gemeinsam nach Luschany, um uns die Shelter der Heiligen Olga, das soziale Café und die Werkstatt "Lebenshilfe" für junge Erwachsene mit Beeinträchtigung anzuschauen. Unterwegs sagt Harms, die Bedingungen in unseren Wohnheimen seien besser als die in vielen Massenunterkünften im Osten, die sie seit 2014 kennt. Ich finde unser Wohnheim Nummer sechs schon ziemlich grenzwertig, aber anscheinend gibt es noch Schlimmeres. Der große Vorteil für die Bewohnerinnen und Bewohner ist jedenfalls die kostenlose Unterbringung. Die Shelter im Luschany, das zur Gemeinde Mamajiwzi gehört, könnte sich dagegen mit einer Massenunterkunft des westlichen Standards messen. Das ehemalige Betriebshotel wurde mit Hilfe der "Eleos-Ukraine" innerhalb von drei Monaten renoviert und bietet bis zu fünfzig Plätze für Binnengeflüchtete, seit Neuestem auch für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden.

Die resolute Geschäftsführerin I. kennen wir schon länger, aus unseren Spenden werden gerade Sportgeräte für eine aktive Freizeitgestaltung draußen angeschafft, ein Teil davon ist schon da. Eine Tischtennisplatte und mehrere aus den Paletten gemachte Sitzbänke stehen vor dem Haus, auch einige Blumentöpfe. Als ein kleines Mitbringsel von uns gibt es eine Kiste Kinderbücher. I. führt uns durch das Haus und erzählt. Wieder draußen lernen wir eine Bewohnerin aus Charkiw kennen. I. führt uns eine kleine Pflanze vor, die sie gezüchtet hat - einen Avocadospross. Mit Harms spricht sie darüber, wie schön Charkiw ist. I. vermisst ihre Heimatstadt sehr, aber es geht ihrer Familie hier im ukrainischen Westen gut. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn haben Jobs gefunden. Ihre Enkelin fühlt sich hier wohl und möchte am liebsten bleiben. Inzwischen hat sie neue Freunde und findet, dass die einheimischen Kinder weniger verwöhnt sind als die in der Großstadt Charkiw. Eine interessante Erkenntnis.

Wir besuchen im anderen Teil des Gebäudes die Werkstatt, dort wird unter der Anleitung von L. fleißig geschneidert und genäht. Die Elterninitiative "Träume der besonderen Kinder" könnte ein Vorzeigeprojekt sein und beweist einmal mehr, wie viel erreicht werden kann, wo der Wille und eine starke Partnerschaft vorhanden sind. Es wird seit mehreren Jahren mit "Lebenshilfe Ostallgäu-Kaufbeuren" gearbeitet. Das Schönste in dieser sozialen Einrichtung ist aber die Atmosphäre - eine gute Stimmung lässt sich nicht vortäuschen. Der Barista im Rollstuhl macht für uns hervorragenden Kaffee. Anschließend ein gemeinsames Mittagessen, zu dem acht verschiedene hausgemachte Obstliköre verkostet werden. Die Bürgermeisterin spricht die deutsche Besucherin darauf ein, dass sie eine deutsche Gemeinde für die Partnerschaft suchen. Harms verspricht, sich in Niedersachsen, wo sie herkommt, umzuhören. Mir sagt die Bürgermeisterin beim Abschied, sie würden in Luschany so sehr noch einen Kinderspielplatz brauchen, durch die binnengeflüchteten Familien haben sie jetzt viel mehr Kinder. "Ich habe Sie gehört", antworte ich. Ein hoffnungsvolles Zeichen für die Gemeinde in der Kriegszeit, wenn die Kinderspielplätze voll und nicht leer sind.

Weitere Folgen dieser Kolumne lesen Sie hier .

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusUkraine-Krieg in der Kunst
:Soldaten zu Dünger

Eine Dresdner Ausstellung zeigt Kunst aus der Ukraine als Versuch der angewandten Kriegs- und Krisenbewältigung

Von Peter Richter

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: