Ukrainisches Tagebuch (XXV):Tabletten per Post

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

An Orten, die von Russen besetzt sind, sind lebenswichtige Medikamente nicht mehr zu bekommen. Wie sich die Großoffensive ankündigt. Das ukrainische Tagebuch.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

An der Universität Czernowitz gibt es, wie an jeder Universität, ein Rektorat; diesem Gremium gehören bei uns drei männliche Personen und eine weibliche an. Interessanterweise scheint es seit dem Kriegsbeginn gerade die Prorektorin (in der Friedenszeit für die "erzieherische und pädagogische Arbeit" zuständig) die Person zu sein, die die Hosen anhat. Sie trifft Entscheidungen bezüglich der Unterbringung der Geflüchteten in den Wohnheimen, fährt, wenn es sein muss, an den Grenzübergang, kommuniziert mit den Behörden, der Grenzpolizei, dem Sicherheitsdienst, engagiert sich für alle Belange, die in unserer Arbeit mit den Hilfslieferungen entstehen. In den zurückliegenden Wochen wurde die Kommunikation zwischen ihr und uns informeller, man tauscht SMSen auch abends gegen 23 Uhr aus, wenn Dringendes zu klären ist. Wir haben viel miteinander zu tun. Am Montag ruft sie an und fragt, ob wir nicht zufällig noch L-Thyroxin haben, die Kollegin aus Charkiw, die bei ihr wohne, hat nur noch wenige Tabletten. Ich habe tatsächlich noch zwei Packungen, die ich für alle Fälle aufgehoben habe. Von diesem Medikament werde ich bald nachts träumen, so oft wird danach gefragt.

Wenn ich zu ihr komme, hat sie eine Geschichte zu erzählen. Vor zwei Wochen schickte sie ein paar Packungen L-Thyroxin auf eine lange Reise in den Ort O. im Gebiet Cherson. Ihr Studienkommilitone wohne dort, er ist schwer krank, lebenswichtige Medikamente sind dort inzwischen nicht mehr zu bekommen, der Ort ist durch Russen besetzt. Am Wochenende sei das Paket zugestellt worden, ein kleines Wunder für den Mann, der ein paar Tage bereits ohne dieses Hormon auskommen musste. Sie habe ihm regelrecht das Leben gerettet, sagt er am Telefon. Was er sonst zu berichten hatte: Zweihundert Meter von seinem Haus entfernt richteten die Russen einen Checkpoint ein. Das Personal der ukrainischen Polizei und des Sicherheitsdienstes sei nicht mehr präsent, einige seien zu den Russen übergelaufen, andere untergetaucht. Die Läden, die eine Zeitlang leer standen, sind plötzlich mit russischen Lebensmitteln gefüllt, auf der Straße werden Kindern Pralinen in die Hand gedrückt. So traurig das für uns klingen mag, ist aber in den besetzten Gebieten mancherorts Realität.

Wir erwarten ein neues Ausmaß der Katastrophe

Meine ältere Nichte findet eine neue Arbeit. Den von ihr früher leidenschaftlich gern gemachten Job im Reisebüro muss sie bis auf Weiteres an den Nagel hängen. Seit der Einführung des Kriegszustandes mussten sie und ihr Mann aufhören zu arbeiten. Zwar war die Situation nicht dramatisch, aber so langsam muss mindestens ein Einkommen her. Also arbeitet sie seit ein paar Tagen in einem großen Lager, der Mann passt erst einmal auf die beiden Töchter auf. Einer der größten Internetbuchhandel in der Ukraine Yakaboo verlegte einen großen Teil seiner Bücherbestände nach Bojany, in das etwa 15 Kilometer von Czernowitz entfernte Dorf. Es ist ein historisch interessanter multinationaler Ort; 2004 wurde dort ein großes Polystyrol-Werk gebaut, in den Folgejahren wurde das Unternehmen erweitert.

Bojany zählt zu den reichen Dörfern im Raum Czernowitz, manche Häuser wirken wie kleine Schlösser, es gehört zum Lebensstil in der Nordbukowina, den Reichtum zur Schau zu stellen. Nun also werden neben den Baumaterialien auch Bücher in den Lagerräumen untergebracht. 20 Reihen mit jeweils 35 vollen Paletten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Gebiet Kiew wohnen ebenfalls dort, es sind provisorische Zimmer und Duschkabinen eingerichtet. Das Gehalt ist für die Verhältnisse in unserer infrastrukturell schwachen Region ordentlich, meine Nichte würde doppelt so viel verdienen wie ich an der Universität, der Vertrag ist bis Ende Juni befristet, aber immerhin offiziell. Ihre Kollegin vom Reisebüro findet einen weitaus exotischeren - nach meinem Verständnis - Job: Sie arbeitet in einer Mining-Farm, einem kleinen Bitcoin-Rechenzentrum. Und eine andere frühere Kollegin erfüllte ihren Traum, indem sie sich als Grafikdesignerin in einer kleinen Firma versucht, die ebenfalls nach Czernowitz umsiedelte.

Ein neues Ausmaß der Katastrophe wird aber erst in den kommenden Tagen erreicht. Es besteht kein Zweifel, dass die Großoffensive als ein besonderes Ostergeschenk unseres "Brudervolkes" vorbereitet wird. Uns erreichen von allen Seiten, vor allem von den Kollegen aus der Universität und unseren Bekannten, freiwilligen Helfern aus anderen Städten, Anfragen. Weil wir mit der Ausrüstung oder speziellen Geräten für die Front nicht helfen können, versuchen wir Lebensmittel und Medikamente einzukaufen. Am Dienstagmorgen sitze ich im Büro und versuche zu kalkulieren, was wir wem vom Spendengeld, das ich aktuell habe, versprechen können.

Von der Antibiotika-Liste für das Militärkrankenhaus in Kiew, die uns ein bekannter Arzt schickt, gibt es in Czernowitz gar nichts, auch kein chirurgisches Nahtmaterial. Dafür wäre in Kiew schon noch einiges zu bekommen, wir würden bestellen und bezahlen, das macht mein Kollege M. Jemand vom Krankenhaus würde die Bestellung in der Apotheke abholen können. Dann kommt S. vorbei, er braucht Geld für die Osterbrote, die für unsere Geflüchteten in den Wohnheimen bestellt wurden. Im Chat lese ich die Frage von D., ob wir noch etwas für Mykolajiw auf Lager hätten. Ich hoffe, jemand vom Lager kann darauf reagieren, ich selber muss los - wir fahren nach Suceava, um die Hilfsgüter von der Technischen Universität Bukarest abzuholen. Zwei Kollegen und der Universitätsfahrer haben die Sondergenehmigungen erhalten, mit denen sie ab jetzt ins Ausland dürfen. Wiederum eine neue Erfahrung.

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