Ukrainisches Tagebuch (XXIX):Die Überläuferin

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Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

In Wassyliwka haben die russischen Besatzer eine neue "Bürgermeisterin" eingesetzt. Das ukrainische Tagebuch über Fahnenwechsel, Propagandareden und verspätete Ostereier.

Ein Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

In den Nachrichten, die ich über einen offiziellen Chat der Regierung erhalte, lese ich, dass im Ort Wassyliwka, Region Saporischschja, eine Kollaborateurin statt des amtierenden Bürgermeisters eingesetzt wurde. Nicht der erste und bestimmt nicht der letzte Fall der Kollaboration, weil aber Wassyliwka die Heimat von meiner Bekannten O. und deren Familie ist, frage ich sie, ob das stimmt. "Ja", schreibt O. zurück, "ich habe gestern den ganzen Tag geweint. Der Ort ist blockiert, keiner darf raus, keiner rein. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung haben gekündigt. Das ist entsetzlich." Sie schickt mir den Link auf den Abschiedspost des Bürgermeisters, auf den aber kein Zugriff mehr möglich ist. "Und dann die Rede der neuen 'Bürgermeisterin'. Alle sind schockiert. Eine Einheimische, die den Bürgermeister früher unterstützte. Ich kann es nicht fassen. Eine Verräterin aus eigenen Reihen. Unsere Kinder gingen zusammen in den Kindergarten."

Ich frage, ob die Frau dazu gezwungen worden sein könnte. "Das glaube ich nicht", schreibt O. "Sieht nicht so aus. Warum ausgerechnet sie?" O. schickt mir ein Video mit der "Antrittsrede". Eine Frau um die dreißig. "Ich wende mich an die Bürger der Stadt Wassiljewka. Angesichts der schweren humanitären Lage und der Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Militärverwaltung durch die amtierende Stadtverwaltung übernehme ich, Natalia Resnitschenko, die Pflichten des Bürgermeisteramtes. Nach dem Staatsstreich 2014 entfachte das Kiewer Regime in Donbass eine blutige Schlacht. Ich bin mir sicher, dass wir es gemeinsam mit dem brüderlichen russischen Volk schaffen, ein friedliches Leben aufzubauen. In unserer Stadt werden demnächst Sozialleistungen ausgezahlt, weiterhin werden Hilfsgüter und Medikamente geliefert und alles sonst, was für ein normales Funktionieren der Stadt erforderlich ist. Liebe Stadtbewohner: Genau wie Sie liebe ich unsere Stadt. Deswegen ist es unsere Pflicht, hier für die Ordnung zu sorgen. Die ukrainische Armee beschießt Wassiljewka, um ein friedliches Leben hier zu verhindern. Ich bitte Sie sehr, die Militärverwaltung unserer Stadt zu unterstützen, damit sich die Situation in unserer Stadt möglichst bald stabilisiert. Ich habe eine Anlaufstelle eingerichtet, an die sich alle mit ihren Problemen wenden oder einen Hilfsantrag stellen können, wenn sie infolge der Beschießungen durch die ukrainischen Armee Schaden genommen haben."

Es ist unerträglich, so etwas aus der Ferne zu beobachten. Wie mag es sich für einen Menschen anfühlen, der den Ort seine Heimat nennt?

Da ich die Frau nicht kenne, die Rhetorik aber schon, bin ich nicht so entsetzt wie O. Ich kann es jedoch nachempfinden, indem ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn jemand aus meinem Bekanntenkreis plötzlich in einer ähnlichen Rolle auftreten würde. Die Rede der Dame wirkt auswendig gelernt oder vorgelesen. "Es klingt sehr nach einer Metoditschka", schreibe ich. "Metoditschka" ist in diesem Fall die Bezeichnung für die durch propagandistische "Textschreiber" vorgefertigte Texte oder Reden. Das kennt man alles aus der sowjetischen Zeit.

"Stimmt 100 %", schreibt O. zurück, "Den identischen Text sprach der neue 'Bürgermeister' von Berdjansk, wortgenau, nur der Ortsname war anders. Die Frau kenne ich persönlich. Wir waren nicht befreundet, grüßten uns nur. Ihr Sohn war ein kleiner Filmstar, alle kannten ihn. Die Stadtverwaltung und der Bürgermeister persönlich haben ihn auch unterstützt, Kostüme angeschafft, Wettbewerbsgebühren bezahlt. Sie investierte in ihren Sohn selbst viel, aber er wurde auch durch die Stadt stark gefördert. Vielleicht war es ihr zu wenig. Jedenfalls schien es immer, dass sie auf Geld und Macht aus war."

O. schickt mir ebenfalls ein Video, in dem zu sehen ist, wie über dem Gebäude der Stadtverwaltung der Fahnenwechsel stattfindet: Die ukrainische Flagge wird heruntergelassen, dann wird die russische gehisst. Es ist unerträglich genug, so etwas aus der Ferne und im Video zu beobachten. Wie mag es sich für einen Menschen anfühlen, der den Ort seine Heimat nennt? Und sich ihm so verbunden fühlt wie O.? Zwar lebe ich in einer Stadt, die im 20. Jahrhundert sechsmal diesen Vorgang erlebt hat, und wenn man die dreifache Besetzung im Ersten Weltkrieg durch die russischen Truppen dazunimmt, dann sogar noch mehr. Jedoch hoffte man im gegenwärtigen Europa, dass so etwas für immer vorbei ist.

Weit gefehlt. In einem geografisch teils europäischen Land wurden Phantomschmerzen einerseits sowie neoimperialistische Ideen weiterhin gehegt und gepflegt. O. schreibt noch, dass sie glaubt, alles würde schnell vorbei sein. Das ist es, was ich ihr wie mir sehr wünsche. Trösten kann ich sie nicht. Ich kann ihr am nächsten Tag nur ein paar Schokoladenostereier und einen Schokoladenhasen geben für ihren Sohn. Obwohl Ostern vorbei ist, wird er sich hoffentlich freuen. Später schreibt O. tatsächlich, dass er "gelacht und getanzt hat", sie haben solche Süßigkeiten noch nicht gesehen. Immerhin eine kleine Freude auch für die Eltern. Einen Gedanken kann ich dabei nicht unterdrücken: dass der kleine Filmstar, der Sohn der neuen "Bürgermeisterin", sein Spielzeug und sein Lego nicht vermissen muss wie der Sohn von O.

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