Über Kritik:Kung Fu Panda und die Urteilskraft

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Bücher lesen, Filme anschauen, Musik hören und sich Notizen machen dabei: Besteht darin die Arbeit des Kritikers? Klingt banal und anspruchsvoll zugleich. A. O. Scott, Filmkritiker der "New York Times", erklärt, was die Kritik heute bedeutet.

Von Johan Schloemann

Und? Wie war der Film? Wie war das Buch, die Serie, das Konzert, die Ausstellung?

So reden viele Menschen miteinander. Die eine hat sich etwas zu Gemüte geführt, der andere will wissen, ob es die Zeit wert war. Es könnte sein, dass man sich dasselbe auch demnächst mal selber ansehen will, muss aber gar nicht sein. Die Neugier ist oft auch so da. Und kriegt man dann einen Daumen hoch oder Daumen runter gezeigt, oder drei von fünf Sternchen, dann ist das schon mal was, aber zu wenig. Noch die schnellste Kulturkonsumentenbilanz im alltäglichen Gespräch braucht immer ein bisschen von vier Zutaten: Inhaltsangabe (bitte nicht zu viel), Erfahrungsbericht, Urteil, Gründe. Die zweite Staffel fand ich viel besser. - Ach so, und warum?

Die öffentliche Form der Antwort auf solche Fragen heißt Kritik. Wer ins Kino gehen, ein Buch für die Sommerferien kaufen will oder als Geschenk, ist ziemlich heiß auf informative, nachvollziehbare und vielleicht auch gut zu lesende Rezensionen. Nicht wenige wollen auch einfach nur so wissen, wie etwas wegkommt, und empfinden das als lehrreiches Spektakel.

Aber seltsam, sobald die Kritik den privaten Umgang verlässt und zu einem allgemeinen Gegenstand wird, sinkt ihr Ansehen plötzlich rapide. Dann drohen ihr viele alte und ein paar neue Vorwürfe: Der Kritiker sei nur ein gescheiterter Künstler. Sein Geschäft sei immer bloß sekundär, reaktiv, parasitär, willkürlich. Er sei ein verkniffener Miesmacher, der sich gegen die liebenden Massen stelle und gegen die Autoren, Schauspieler und so fort, die sich doch so toll angestrengt hätten. Er verhindere gar das wahre Kunsterlebnis, denn es sei doch "Interpretation die Rache des Intellekts an der Kunst", wie die Kritikerin Susan Sontag einmal meinte. Die Kritik kann Trillionen Videospiele und Hip-Hop-Alben und Bestseller besprechen, man hält ihr immer noch vor, sie hänge an einem angeblich verstaubten Kanon und sei elitär. Ohnehin werde sie erledigt durch das Ende der Autorität von Printpublikationen, durch die Liebhaberblogs, Online-Fangemeinden und das Schwarm-Rating bei Amazon, Google oder Tripadvisor.

"Jedes kleine Mädchen möchte hören, dass seine Fingermalerei ein Meisterwerk ist."

Die Kritik an der Kritik trifft wunde Punkte und schwarze Schafe, vielleicht auch eine ganze Menge davon, aber im ganzen ist sie Quatsch. Das findet A.O. Scott, Filmkritiker der New York Times: "Jedes kleine Mädchen möchte hören, dass seine Fingermalerei ein Meisterwerk ist, das mindestens einen Platz auf dem zeitweiligen Pantheon der Kühlschranktür verdient hat. Aber jedes Kind weiß auch, dass manche Dinge besser sind als andere."

Und weil er das auch weiß, hat A.O. Scott jetzt ein Buch zur Verteidigung weniger seiner gebeutelten Zunft als des unstillbaren Bedarfs an Kritik geschrieben. Es heißt auf Deutsch recht geschickt "Kritik üben", auch wenn der Titel des amerikanischen Originals pathetischer klingt ("Better Living Through Criticism"). Gute Kritik, proklamiert Scott, sei daran zu messen, "ob der Akt des Prüfens zu etwas Interessantem gemacht werden kann". In den USA erschien das Buch, bevor Donald Trump Präsidentschaftskandidat wurde, aber es enthält schon Populismus-Warnungen und wird nun auch als Plädoyer für kulturelle Unterscheidungsfähigkeit überhaupt empfohlen, so zuletzt von dem Musikkritiker Alex Ross im New Yorker.

Erst einmal fällt es A.O. Scott gar nicht so leicht, anderen zu erklären, was man als Kritiker eigentlich die ganze Zeit so macht. Die journalistische Arbeit neben dem eigenen Schreiben, die oft den Hintergrund darstellt, ist für Außenstehende großteils unsichtbar und undurchsichtig, und so schrumpft die Erklärung darauf, dass man sich zum Beispiel lauter Filme ansieht, Bücher liest, Musik anhört und danach etwas darüber schreibt. Klingt sehr banal und zugleich, wenn man darüber nachdenkt, sehr anspruchsvoll; voraussetzungsreich und doch fast absurd simpel: "Was für ein erwachsener Mann lässt finster blickend ,Kung Fu Panda' am Bildschirm über sich ergehen und macht sich dabei Notizen?"

In jedem Fall kann Scott manche Vorurteile über die Kritik leicht ausräumen. Sie nage mitnichten an den kreativen Künsten, sondern sei eine ihrer Lebensquellen, sagt er. Nicht nur gescheiterte, auch bedeutende Künstler konnten oder können bedeutende Kritiker sein. Scott erinnert an Hector Berlioz, George Bernard Shaw oder die Nouvelle-Vague-Regisseure Godard, Chabrol, Truffaut, und man könnte Robert Schumann, John Updike, Joyce Carol Oates oder Hanns Zischler ergänzen. "Mache es besser!", schrieb Lessing in der "Hamburgischen Dramaturgie", hielten die Künstler den Kritikern gerne vor - aber immer nur als Vorwand, um "die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen". Und Digitalisierung und PR-Kommerz, schreibt Scott, seien vielleicht eine Bedrohung für den Beruf, aber nicht für die Tätigkeit der Kritik.

Das Buch ist jedoch nicht rein defensiv, schon gar nicht weinerlich. Es schwärmt auch, mal lustig und selbstironisch, mal im sehr ernsthaften New Yorker Intellektuellenton, vom sensiblen Urteilen in einer post-kanonischen Kultur und bringt Beispiele von Kunsterlebnissen zwischen alternativer Countrymusik und dem Louvre. Auch die Debatten der Moderne über den Sinn der Kritik werden berührt, die großen Hoffnungen von Geschmacksbildung bis Menschheitsverbesserung, auch Immanuel Kants klassische Forderung aus der "Kritik der Urteilskraft", mit dem Urteil müsse "ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit verbunden" sein. "Kritik üben" ist aber keine weitere Einführung in die ästhetische Theorie, sondern eher eine leidenschaftliche Warnung vor der Abschaffung der rezensorischen Einfühlung und Argumentation in der Gegenwart.

Vor fünf Jahren geriet A.O. Scott in einen Twitter-Krieg mit dem Schauspieler Samuel L. Jackson über die Qualität des Blockbusters "The Avengers". Er kennt unser Gefühl von Überangebot und digitaler Überforderung, und gerade deswegen kriegt er den Wert und das Dilemma von Kritik so zeitgemäß zu fassen: "Dieser Zustand staunender Paralyse schreit nach Kritik, die verspricht, das Überangebot zu sortieren, bei der Entscheidungsfindung zu helfen, als Türhüterin für unsere belagerten Sensorien zu fungieren. Es gibt nur begrenzte Zeit, begrenztes Geld, begrenzten kognitiven Raum, und wir könnten etwas Hilfe gebrauchen, um davon weisen Gebrauch zu machen. Die Ironie ist, dass die Kritik ihre eigenen Überschüsse produziert, da sie sich in so rascher Reichlichkeit reproduziert, dass sie mehr wie ein kulturelles Abfallprodukt wirkt als wie ein unentbehrlicher Nährstoff, was zu der Unordnung beiträgt, für deren Beseitigung sie sorgen soll."

Ach so: Und? Wie ist denn das Buch von A.O. Scott jetzt eigentlich, wie liest es sich? Im Sinne der allerheiligsten Prinzipien anspruchsvoller, skrupulöser, origineller und stilistisch brillanter Kritik sage ich es mal so: ganz gut.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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