TV: Scripted Reality:Das große Hartz-Theater

Doku-Soaps aus dem Problemmilieu gewinnen Zuschauer, seit die Personen und ihre Konflikte frei erfunden sind.

Alexander Kissler

Nimmt man die Einschaltquoten und die Kreativität der Sender zum Maßstab, dann könnte das Fernsehen der Zukunft so aussehen: Frauen wie Sandy wollen sich von Männern wie Marc trennen, weil Marc sie beim Sex filmte und das Video ins Internet stellte.

Mitten im Leben

Wer Tag um Tag den inszenierten Geschichten von "Mitten im Leben" beiwohnt, der kennt Mütter nur im Zustand der Überforderung.

(Foto: Foto: SZ)

Alleinerziehende Mütter wie Chantal verlieben sich in ehemalige Sträflinge wie Marco und richten ihre Familie zugrunde. Kinder wie Yannick terrorisieren Eltern wie Sandra und Jörg, denn Sandra ist schrill, Jörg bräsig, und Yannick hat einen Hass. Gemeinsam ist allen, dass sie lieber schreien als reden, lieber Bier trinken als arbeiten - und dass ihr Plärren und Raufen von immer mehr Zuschauern verfolgt wird.

Kein anderes Format hat im zurückliegenden Fernsehjahr derart steile Quotenzuwächse erlebt wie die "Doku-Soap". Der Titel lässt ein authentisches Abfilmen realer Konflikte erwarten. Durchschnittsmenschen von nebenan sollen ihren Alltag vor einer Kamera vorführen oder nachstellen - soweit die Theorie. In diesem Jahr aber wurde das Format grundlegend neu definiert. Marktführer RTL nennt sein liebstes Nachmittags-Genre "Doku-Serie".

Im Abspann jedoch steht neuerdings der Satz: "Alle handelnden Personen sind frei erfunden." Erst mit diesem Paradigmenwechsel von Laien, die sich selber spielen, zu Laien, die fiktive Figuren in ausgedachten Konflikten darstellen, kam der Quotenerfolg. Authentizität fasziniert offenbar umso mehr, je künstlicher sie ist.

Die beiden Flaggschiffe zwischen 15 und 17 Uhr, die Sendungen Verdachtsfälle und Familien im Brennpunkt, ließen bei den Marktanteilen bereits die 30-Prozent-Marke hinter sich. Fast jeder dritte Zuschauer zwischen 14 und 49 war Ende Oktober Zeuge, als der bisherige Rekordwert von 30,6 Prozent erzielt wurde. Mehr als zwei Millionen Menschen insgesamt ergötzten sich damals am Türenschlagen und Tränensimulieren. Im Schnitt sind es 22 bis 24 Prozent. Knapp dahinter rangiert um 14 Uhr der RTL-Dauerbrenner "Mitten im Leben", der seit Mai 2008 läuft und im Gegensatz zu den neuen Formaten nicht immer komplett "gescriptet", also erfunden ist.

Lesen Sie auf Seite 2, warum die Doku-Soap so glaubhaft wirkt.

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