Nimmt man die Einschaltquoten und die Kreativität der Sender zum Maßstab, dann könnte das Fernsehen der Zukunft so aussehen: Frauen wie Sandy wollen sich von Männern wie Marc trennen, weil Marc sie beim Sex filmte und das Video ins Internet stellte.
Alleinerziehende Mütter wie Chantal verlieben sich in ehemalige Sträflinge wie Marco und richten ihre Familie zugrunde. Kinder wie Yannick terrorisieren Eltern wie Sandra und Jörg, denn Sandra ist schrill, Jörg bräsig, und Yannick hat einen Hass. Gemeinsam ist allen, dass sie lieber schreien als reden, lieber Bier trinken als arbeiten - und dass ihr Plärren und Raufen von immer mehr Zuschauern verfolgt wird.
Kein anderes Format hat im zurückliegenden Fernsehjahr derart steile Quotenzuwächse erlebt wie die "Doku-Soap". Der Titel lässt ein authentisches Abfilmen realer Konflikte erwarten. Durchschnittsmenschen von nebenan sollen ihren Alltag vor einer Kamera vorführen oder nachstellen - soweit die Theorie. In diesem Jahr aber wurde das Format grundlegend neu definiert. Marktführer RTL nennt sein liebstes Nachmittags-Genre "Doku-Serie".
Im Abspann jedoch steht neuerdings der Satz: "Alle handelnden Personen sind frei erfunden." Erst mit diesem Paradigmenwechsel von Laien, die sich selber spielen, zu Laien, die fiktive Figuren in ausgedachten Konflikten darstellen, kam der Quotenerfolg. Authentizität fasziniert offenbar umso mehr, je künstlicher sie ist.
Die beiden Flaggschiffe zwischen 15 und 17 Uhr, die Sendungen Verdachtsfälle und Familien im Brennpunkt, ließen bei den Marktanteilen bereits die 30-Prozent-Marke hinter sich. Fast jeder dritte Zuschauer zwischen 14 und 49 war Ende Oktober Zeuge, als der bisherige Rekordwert von 30,6 Prozent erzielt wurde. Mehr als zwei Millionen Menschen insgesamt ergötzten sich damals am Türenschlagen und Tränensimulieren. Im Schnitt sind es 22 bis 24 Prozent. Knapp dahinter rangiert um 14 Uhr der RTL-Dauerbrenner "Mitten im Leben", der seit Mai 2008 läuft und im Gegensatz zu den neuen Formaten nicht immer komplett "gescriptet", also erfunden ist.
Lesen Sie auf Seite 2, warum die Doku-Soap so glaubhaft wirkt.
"Mitten im Leben" aber, das vor der Ergänzung durch die beiden Nachfolgesendungen nur zwölf Prozent Marktanteil erzielt hatte, war das Einfallstor, das die Fiktionalität brachte, die "Scripted Reality". Anfang März stand auch dort erstmals im Nachspann zu lesen, es handele sich um frei erfundene Personen.
Der Erfolg war überwältigend. Die Folgen "Teeniemutter hat Ärger mit dem Jugendamt", "LKW-Fahrer zweifelt an seiner Vaterschaft", "Tunesischer Vater will mit Tochter zurück" und "Zweifacher Mutter droht Zwangsräumung" sorgten für Quoten zwischen 18 und 21 Prozent. Urplötzlich war das zeitgleich laufende We are Family abgehängt. Mit diesem Format hatte Pro Sieben seit Juli 2005 das Feld dominiert.
Die neuen Platzhirsche am Nachmittag tragen Episodentitel, mit denen RTL keine Fragen offen lässt: "Hochhausschlampe steht unter Mordverdacht", "Mann lebt zusammen mit Ehefrau und deren Lover" oder "Unzufriedene Mutter ist megaaggressiv". Wer Tag um Tag diesen inszenierten Geschichten beiwohnt, der kennt Mütter nur im Zustand der Überforderung, Väter nur als schlaffe Waschlappen oder muffige Schläger, Jugendliche nur als Rowdies. Fast ausnahmslos ist der Dreh- und Handlungsort Berlin oder eine nordrhein-westfälische Großstadt, die Figuren sind allesamt in einem subproletarischen Milieu beheimatet. Hartz IV und Vorstrafenregister sind fast der Normalfall, Piercings und Tattoo Pflicht.
Als wär's ein Stück aus dem Leben
Ergo taugt die erfundene Verdichtung als Indikator für Realität. Eine permanent ausgestellte Aggressivität wirkt glaubhaft, gerade weil sie so unfassbar laienhaft dargestellt wird. Das unbeholfene Spiel, das hilflose Grimassieren, das Aufsagen alberner Sätze, alles erhöht paradoxerweise die Glaubwürdigkeit: Wer so mies spielt, muss "echt" sein. Zum Beispiel muss der 14-jährige Yannick hastig und holprig seinen Hass auf die Schule hervorstoßen, auf "diese langweiligen Fressen um mich rum, das regt mich voll auf".
Oder der Darsteller des arbeitslosen Ex-Häftlings Marco, der sich bei der alleinerziehenden Mutter Chantal ins gemachte Nest setzt, muss sehr dick auftragen, wenn er seine "Schnecke" wegen einer "Pulle Bier" anherrscht; grundsätzlich trägt er ein Achselhemd. Oder der arbeitslose Hilfsarbeiter Mario, ebenfalls frisch aus der Vollzugsanstalt entlassen, muss ungelenk die Arme schleudern, damit Nebenbuhler Pascal, ein Punk mit Irokesenschnitt, Angst spielen kann: "Du machst den Fisch jetzt!" Der Punk revanchiert sich, "ne hohle Hülsenfrucht" sei der Mario.
Zu den erfundenen Personen, die Aufgeschriebenes aufsagen, zählt auch das jeweilige Erziehungspersonal, die Anwälte und Psychologen, Polizisten und Beamten. Die Inflation der "Doku-Soaps" und Coaching-Formate im Privatfernsehen stützt staunenswert die mancherorts beklagte Verwandlung Deutschlands in eine betreute Republik. Fast jede Episode mündet in den Auftritt eines professionellen Problemlösers. Die Polizei bringt Yannick in die Förderschule, während das Familiengericht Chantal das Sorgerecht entzieht, weil ihr neuer Partner Marco randaliert und betrügt. Den erfundenen Aufsichtspersonen obliegt es auch, die Fiktionalität der ganzen Soap zu vertuschen.
"Die Kamera bleibt draußen", sagt die Darstellerin einer Lehrerin unvermittelt - als wär's ein Stück aus dem Leben und nicht das standardisierte Produkt einer Fernsehindustrie, die das Künstliche für real erklärt, um selbst Realität definieren zu können.