Türkische Chronik (XL):"WIr müssen unsere Köpfe benutzen"

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Zeynep Direk ging noch weiter. Laut der Philosophin war Gülmens erste Aktion noch ein ehrenwerter Widerstand. "Bis jetzt", schrieb sie, "sahen wir einer Akademikerin zu, die jeden Tag mit einem Lächeln auf der Straße stand, die von Passanten mit Essen und Getränken versorgt wurde, und die hat sich nun in eine Selbstmordaktivistin verwandelt. Lasst uns da nicht von ihrem eigenen Willen sprechen, weil der Wille selbst unter allen möglichen Einflüssen steht. Wahrscheinlich erleben wir eine Kapitulation vor jenen Kräften, die Einfluss ausüben. Das Leben kann nicht auf diese Weise verteidigt werden. Ich distanziere mich von allen Gruppen und Strukturen, die nur aufgrund von Zweckmäßigkeit hinter dieser Aktion stehen."

Als sie weiterhin verbal gelyncht wurde, sagte sie: "Ich wende mich nicht an den Staat, weil der nicht länger existiert. Ich richte mich an Einzelne und Gruppen. Es gibt nichts zu verteidigen, wenn jemand auf die moralisch falsche Weise auf Misshandlungen reagiert. Die beiden müssen davon überzeugt werden, dass ihre Handlungen falsch sind. Einzig und allein das kann der Standpunkt der Gelehrten sein. Wir müssen unsere Köpfe benutzen, anstatt uns selbst Schaden zuzufügen."

An diesem Punkt schlossen sich einige Menschen ihrer Meinung an. Menschen, die sich in den Neunzigern an den Hungerstreiks in den Gefängnissen beteiligt hatten. Für sie bestand ein großer Unterschied zwischen einem Gefangenen und einem Menschen, der seinen Job zurückwill.

"Die Seelen der Intellektuellen, die Gewalt befürworten, werden früher oder später verrotten."

"Resilienz", schrieb Zeynep Direk einigen, die Marx zitierten, "ist der Wille, ein neues Leben aufzubauen. Wenn der Staat alles andere als ein Staat ist, dann sollten wir einzig und allein alles daransetzen, dass er auf seine Grundlagen zurückgesetzt wird und die menschliche Integrität anerkennt. Psychische Widerstandsfähigkeit, Überlebenswille, die rationale Diskussion, Solidarität, Freundschaft und Ausdauer durch die schwere Zeit hindurch, das sind die richtigen Lösungen. Nun sagst du mir, Kant schon wieder, bourgeoiser Liberalismus? Was ist denn mit ein wenig Marx? Es mag hart für dich sein, aber dies könnte tatsächlich die Zeit sein, in der Kant Marx voraus ist, meinst du nicht?"

Und weiter: "Wenn wir Intellektuelle wie Edward Said mal beiseitelassen, der Menschen beistand, die Zustände ähnlich denen in einer Strafkolonie aushielten, sollte ein Intellektueller dann das Opfer von Menschenleben der Kinder seines Landes verteidigen? Am Ende, wenn der Staat diese Kinder zermalmt hat, wie kannst du dann noch in die Gesichter ihrer Mütter sehen? Wären diese Leute nicht böse auf dich? Die Seelen der Intellektuellen, die Gewalt befürworten, werden früher oder später verrotten. Sie verenden unter dem Gewicht der Toten, denen sie beigepflichtet haben. Es gibt so viele Menschen, die unter Depressionen leiden und dem Denken feindselig gegenüberstehen. Also egal, unter welchen Bedingungen wir leben müssen, bitte versuche nicht, einer dieser Intellektuellen zu sein, die den Tod vergeistigen und damit wie Totengräber handeln."

Zeynep Direk stellt in der turbulenten und krisengeschüttelten Türkei eine Ausnahme dar. Die Verzweiflung der marxistischen Linken ist eine schlichte Tatsache. Sie findet keinen politischen Konsens mit dem ziemlich unterwürfigen Volk, ob es nun fromm oder kemalistisch-säkular ist. Was wiederum dem anderen Ende der politischen und religiösen Überzeugungen in die Hände spielt, den Dschihadisten. Die Gefahr, die nun entsteht, ist eine Wiederholung der modernen türkischen Geschichte. Die beiden Hungerstreikenden nähern sich jeden Tag ihrem Tod. Sie sind im Prinzip "Gefangene" ihrer Unterstützungskampagne. Und wenn es zur Tragödie kommt, wird es den Staat kein bisschen kümmern. Familienangehörige und Freunde werden leiden, und alle anderen werden es als Sieg verbuchen.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Fastabend.

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