"Wenn die Macht das Leben ins Visier nimmt, dann wird das Leben selbst ein einziger Widerstand gegen die Macht."
Dieses Motto, das oft bei Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen zu hören und zu lesen war, ist weiterhin aktuell. In der vergangenen Woche hat ein Erlass nach dem anderen das Leben der türkischen Bürger kaputt gemacht, vom Lehrer bis zum Journalistin. Sie werden in die Arbeitslosigkeit getrieben, Karrieren werden verbaut, sie werden dafür bestraft, dass sie ihren Unmut über den enormen Machtzuwachs Präsident Erdoğans öffentlich ausgesprochen haben.
Die Verschärfung der Säuberungen hat eine Debatte unter den Intellektuellen losgetreten, in der es um das Recht zu leben geht, um Herdenmentalität, und darüber, ob das Sterben für seine Ideale ein moralischer Akt ist oder nicht. Die Debatte wurde teilweise so erbittert geführt, dass mit Flüchen und Schimpfworten um sich geworfen wurde. Sie war aber auch so tief greifend, dass Spinoza, Derrida, Marx, Kant, Sartre, Said und andere zitiert wurden.
Im Mittelpunkt der Diskussion stehen zwei Aktivisten: Nuriye Gülmen und Serdar Özakça. Zwei Lehrer, die im vergangenen Herbst willkürlich ihre Jobs verloren haben. Nuriye Gülmen war die Erste, die vergangenen November zu demonstrieren anfing, alleine, mit einem Plakat in der Hand, auf dem "Ich will meinen Job zurück" geschrieben stand. Sie wurde regelmäßig verhaftet, kehrte aber immer wieder auf den Platz zurück. Irgendwann schloss sich Serdar Özakça ihr an. Auch er war Lehrer und gefeuert worden.
Seit ich Anfang März schon einmal von ihnen berichtet habe, hat sich ihr ziviler Widerstand zu einem Hungerstreik entwickelt. Sie fordern die Aufhebung des Notstandsgesetzes, das Ende der willkürlichen Entlassungen, Arbeitsplatzsicherheit für die Angestellten des öffentlichen Dienstes und - das zeigt ihre Vorliebe für den Widerstand - die Wiederbeschäftigung aller "revolutionären Demokraten".
Fast zweieinhalb Monate später bekommt ihre Aktion immer noch große Aufmerksamkeit. Während die regierungsfreundlichen Kolumnisten die beiden ehemaligen Lehrer beschuldigen, dem linken Untergrund anzugehören, spotten AKP-Anhänger in den sozialen Medien, warum sie noch kein Gewicht verloren haben. Einige schicken ihnen Mahlzeiten. Wer sich solidarisch mit ihnen zeigt, wird des Platzes verwiesen. Ihre Aktion führte zu weiteren Hungerstreiks im ganzen Land. Einige Beiträge linker Gelehrter trugen zur Mythenbildung bei, dass die streikenden Lehrer, "einen stummen Schrei vervielfachen würden, indem sie dem Tod trotzten, der andere erreichen würde, nämlich diejenigen, die das Leben zwar lieben, dem Tod aber bereitwillig ins Auge sehen würden".
Dies führte zu großen Einwänden einiger Intellektueller, allen voran von der international bekannten Philosophin Zeynep Direk der Koç-Universität in Istanbul, die die moralische Legitimität einer solchen Aktion infrage stellte, sie als gespiegelten Märtyrertod bezeichnete und mit der Vorgehensweise von Dschihadisten verglich.
Als ich von einem Freund auf die Debatte aufmerksam gemacht wurde, bemerkte ich, dass die sozialen Medien ein einziger Kampfschauplatz sind. In der Schusslinie befand sich Zeynep Direk, die für ihre Aussagen heftig von linker Seite beschimpft wurde. "Halt die Klappe!", war da noch das Harmloseste. Doch sie ließ sich nicht beirren: "Ich werde das aussprechen, was ich denke", schrieb sie, unterstützt von einer Gruppe besorgter Intellektueller. "Wir wissen, dass die staatlichen Repressionen sie zum Hunger gebracht haben", schrieb sie auf Facebook, "aber jeder hat seine Freunde, seine Vertrauten. Man kann zusammenhalten, bis die Zeiten sich ändern. Zerstört ein Hungerstreik bis zum Tod nicht das Vertrauen, das wir in diese Beziehungen haben sollten?"