Gezi-Proteste:Erdoğan nennt ihn den "roten Soros"

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Osman Kavala in Istanbul im Jahr 2015 (Foto: AP)

Dem Unternehmer Osman Kavala wird in der Türkei der Prozess gemacht. Er soll die Gezi-Proteste 2013 finanziert haben. Die vermeintlichen Beweise gegen ihn sind absurd.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Gibt es da jemand, der einen besonderen Sinn für Zahlen hat? 600 Tage saß Osman Kavala in der Türkei schon in Einzelhaft, bevor am Tag 601 der Prozess gegen ihn beginnt. Gegen einen Mann, der als großzügiger Mäzen gepriesen wird, und der einer der berühmtesten Gefangenen der Türkei ist. Am Montag wird Kavala, 62, seine Einzelzelle im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri verlassen und in den schwer bewachten Gerichtssaal der Haftanstalt geführt werden. Mitangeklagt sind 15 Schauspieler, Architekten, Journalisten, Akademiker. Bis auf den Sozialwissenschaftler Yiğit Aksakoğlu sind sie auf freiem Fuß oder schon ins Ausland geflohen.

In der 657 Seiten langen Anklageschrift wird allen vorgeworfen, sie hätten vor sechs Jahren an den Gezi-Protesten in Istanbul teilgenommen, um in einer "gewaltsamen Rebellion" die Regierung zu stürzen oder diese an ihrer "Aufgabenerfüllung" zu hindern. Kavala wird beschuldigt, die Proteste zur Rettung eines kleinen Istanbuler Parks finanziert zu haben, er hat dies entschieden bestritten. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat den Unternehmer den "roten Soros" genannt. Die Staatsanwaltschaft verlangt für alle erschwerte lebenslange Haft, also mindestens 30 Jahre.

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Die gewaltige Inszenierung - Hochsicherheitsgefängnis, 70 Kilometer von Istanbul entfernt - steht in auffallendem Gegensatz zu den angeblichen Beweismitteln und dem Zustandekommen der Anklage. Die wurde anfangs von Leuten im Polizei- und Justizapparat zusammengetragen, die inzwischen selbst als Staatsfeinde gelten, wegen Teilnahme an dem Putschversuch im Juli 2016. In der Anklageschrift finden sich Telefonabhörprotokolle, Bankauszüge, Handyfotos, Flugdaten, Facebookposts. Kavala arbeitete als Kulturmäzen eng mit internationalen Stiftungen zusammen, so kann man auch Gesprächsprotokolle mit Mitarbeitern des Goethe-Instituts und des deutschen Konsulats nachlesen, samt Fotos, die ein stiller Beobachter aufnahm. Völlig absurd: Auch eine Karte über die Verbreitung von Bienen im Nahen Osten, die sich auf Kavalas Handy befand, wurde zum Beweismittel. Die Bienengeografie wird als Beleg dafür gewertet, dass Kavala die Landesgrenzen verändern wollte. Separatismus ist einer der schwersten Vorwürfe in der Türkei.

Amnesty, PEN, Reporter ohne Grenzen, Börsenverein - sie alle fordern die sofortige Freilassung

Blumen verteilen an Polizisten, stummes Stehen - auch damit sollen sich die Angeklagten schuldig gemacht haben. Trotz der Kuriositäten, angesichts des Klimas in der Türkei, sind hohe Haftstrafen nicht ausgeschlossen. In einer gemeinsamen Erklärung haben Amnesty International, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Reporter ohne Grenzen, der PEN und andere Organisationen die sofortige Freilassung der Angeklagten gefordert. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, die als Prozessbeobachterin in Istanbul ist, sagte am Sonntag, wenn sich die türkische Justiz "auch nur einen Funken Unabhängigkeit" erhalten habe, könne es nur einen Freispruch geben. Roth forderte, "den Hebel anzusetzen", wo es Ankara wehtue, bei den Hermesbürgschaften zum Beispiel.

Die Anklage vergleicht die Proteste mit dem Militärputsch vom 27. Mai 1960. Und da verfällt sie tatsächlich der Zahlenmystik. Auch die Gezi-Proteste hätten nämlich an einem 27. Mai begonnen. Für das Datum verantwortlich waren freilich Arbeiter der Stadt, die versuchten, Bäume in dem Park zu fällen. Erst danach schlugen junge Demonstranten dort Zelte auf, und als die Polizei das Zeltlager mit großer Gewalt räumte, verbreiteten sich Proteste gegen die Regierung übers ganze Land. Der Park wurde gerettet, und besetzt ist er bis heute Tag und Nacht, von Wasserwerfern der Polizei.

© SZ vom 24.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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