Töne der Gegenwart:Du bist doch keine Memme

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Wenn der Hauptmann von Köpenick aus Kamerun kommt, Bürger ihr Theater boykottieren, die Presse wieder mal Bescheid weiß und alle sich bestätigt fühlen: Paul Plamper führt den Mechanismus der Lagerbildung vor.

Von Jens Bisky

Leerstadt ist ein Ort wie andere auch, nicht besonders groß, ein wenig überaltert, irgendwo in Ostdeutschland gelegen. Obwohl die Zahl der Einwohner seit Jahren sinkt, gibt es doch noch viel von dem, was das Leben angenehm macht, darunter ein Schwimmbad, ein Theater, eine Zeitung. Vor einiger Zeit trafen reisebusweise Flüchtlinge ein, was viele aufregt. Leerstadt musste mehr Flüchtlinge aufnehmen als andere Gemeinden des Landkreises. Eine Einwohnerversammlung soll längst gefallene Entscheidungen erklären, Sorgen beschwichtigen.

Versammlungen dieser Art haben 2015, 2016, in den Monaten, die das Land veränderten, hundertfach stattgefunden. Findige Kommunalpolitiker verlegten sie in Kirchen, weil, wie es hieß, die Aufgeregten in Gotteshäusern zögerten, Hemmungen fallen zu lassen, herumzupöbeln.

In Leerstadt eskaliert das Gespräch zwischen Landrätin, Oberbürgermeister und den versammelten Einwohnern. Ein Herr im karierten Hemd entschuldigt sich erst für seine Erregung und legt dann los. Warum "die Schmarotzer Geld bekommen", will er wissen. Er arbeite zehn Stunden am Tag, denen werde alles hinterhergeschmissen. "Auf dem Niveau, mit der Wortwahl, erklär' ich Ihnen gar nichts", sagt die Landrätin. Einer Schauspielerin platzt der Kragen, als die Tirade des Karierten "ernst genommen" werden soll. "Scheiß Populist", schimpft sie und verlässt den Raum. Dem Oberbürgermeister, der für Mäßigung im allgemeinen und Toleranz gegenüber allen Meinungen im besonderen wirbt, entgleitet die Situation. Und dann meldet sich ein gekonnt argumentierender Herr vom "Bürgerbund" und führt vor aller Augen, was in der Zeitung berichtet wurde: wie ein Asylbewerber einen Kühlschrank aus dem Fenster warf.

Vom Boykott des Theaters, zu dem der "Bürgerbund" aufruft, profitiert das Theater

Nichts von dem, was in dieser Hörspielszene gesagt wird, ist neu, kein Satz überrascht. Man hat dergleichen schon gehört und wird den Eindruck nicht los, dass auch die zerstrittenen Leerstädter nur wiederholen, was an anderer Stelle vorformuliert worden ist, dass sie ihre Situation in Talkshow-Floskeln verstehen. Wie diese Floskeln die konkrete Lage prägen, davon handelt Paul Plampers Hörspiel "Der Absprung". Es führt die allmähliche Verfertigung der Wirklichkeit beim Phrasendreschen und die Mechanismen der Lagerbildung in einer kleinen ostdeutschen Stadt vor, in der die Menschen gut und böse, überfordert und hilfsbereit, vor allem aber Menschen sind, also gemischte Charaktere, aus krummem Holz geschnitzt.

Plamper verzichtet darauf, seine Figuren zu denunzieren, er behandelt sie alle mit der gleichen Sorgfalt: den Oberbürgermeister, der mit allen reden will und den Vorwurf kassiert, Volksverhetzung zuzulassen; den Theatermann, der von seinen Überzeugungen nicht lassen mag und regelmäßig die Bühne mit der Welt verwechselt; den Schauspieler aus Kamerun, dem Kinder das Schwimmen beibringen, der als Hauptmann von Köpenick einen großen Erfolg hat und sich dennoch fremd, bedroht fühlt; die Journalisten, die Wirklichkeit nicht beschreiben, sondern entlarven wollen; die Politiker der mittleren Ebene, die notwendig überfordert sind.

"Der Absprung" greift Ereignisse in Altenburg, Ostthüringen, auf. Ende 2016 kündigten dort Schauspieler verschiedener Nationalitäten an, ihren Vertrag nicht verlängern zu wollen, alltägliche Fremdenfeindlichkeit war einer der Gründe dafür. Überregionale Empörung folgte. Plamper hat die Vorgänge ausführlich recherchiert. Als 20-Kanal-Audio-Installation wurde sein Hörspiel im Schloss Altenburg aufgeführt. Es ist jedoch keine Reportage, sondern der Versuch, Distanz zu gewinnen mit jenen Mitteln, die Plamper beherrscht wie nur wenige in seinem Metier. Seit Jahren findet er Situationen, die aus dem Leben gegriffen scheinen, aber doch ganz der Kunst angehören. Eine Frau hört plötzlich auf zu sprechen, eine Gruppe von Menschen wird Zeuge einer Gewaltszene, ein Paar entschließt sich zum Wohnungskauf, zu Weihnachten werden Geschenke ausgepackt, immer wieder, Jahr für Jahr.

Aus solch einfachen Ausgangssituationen hat Plamper Hörspiele entwickelt und dafür viele Preise erhalten. Er fragt, wie Menschen sich verhalten, wie sie über ihr Verhalten reden, es rechtfertigen. Er schildert Abläufe, ohne Taten und Worte seiner Protagonisten psychologisch, sozial oder ideologisch zu motivieren, auf eine Hintergrundwelt der Absichten, Werte, Überzeugungen zu beziehen. Das bleibt, so sie denn wollen, den Hörern überlassen.

Das Leerstädter Geschehen wird in einer Reihe von Standardsituationen entfaltet: Bürgerversammlung, Besprechung, Theaterprobe, Geplauder nach der Aufführung, Interview, Kundgebung. Der Demagoge vom "Bürgerbund" hat zum Boykott des Theaters aufgerufen, von dem beide profitieren. Die Zuschauer strömen in die Aufführungen, die Bürgerbündler schliessen die Reihen. Fabian Hinrichs spielt ihren Sprecher, ohne pädagogische Warnzeichen zu setzen. Wenn er auf der Bürgerversammlung oder mit Journalisten spricht, fasziniert er, auch wenn man ihm nicht zustimmen möchte. Er argumentiert klar und leutselig, nimmt die Position des Ausgeschlossenen ein, ohne sich in passiver Aggressivität einzurichten, er verfügt über große situative Intelligenz und genießt hörbar seine eigenen Auftritte. Ihm gehört der letzte Satz des Hörspiels. Wie der Darsteller des Hautmanns von Köpenick wagt auch er einen Absprung, den hinab zum Wahlvolk.

Ob man mit Rechten reden solle, wie man mit Linken leben könne, wie mit Populisten zu argumentieren sei, wo die Grenzen des Sagbaren verlaufen, wer über den Diskurs wachen dürfe, was man ernst nehmen müsse - zu all diesen Fragen existiert inzwischen eine umfangreiche Spezialliteratur. Oft wird dabei Gesellschaft mit Podiumsdiskussionen nach akademischen Regeln verwechselt. Da mag man schweigen, überzeugen, ausschließen können.

In der Wirklichkeit von Leerstadt und andernorts gilt dagegen die schlichte Beobachtung, dass man nicht nicht kommunizieren kann, dass im sozialen Raum auch der viel sagt, der gar nichts sagt. Paul Plampers Hörspiel erzählt die Geschichte einer Verhärtung. Am Ende können sich alle bestätigt fühlen: die Warner, die Bürgerbündler, die Theaterleute. Aber Leerstadt und seine Probleme sind immer noch da. Den ersten Absprung, ganz zu Beginn des Spiels, soll der Schauspieler aus Kamerun wagen, der Schwimmen lernt, dem die Kinder die Angst vor dem Wasser nehmen wollen. "Du schaffst das", rufen sie: "Du bist doch keine Memme", und: "Stell Dir einfach vor, es ist kein Wasser", "Du darfst nicht nach unter gucken".

Paul Plamper: Der Absprung. Mit Dana Weber, Fabian Hinrichs, Richard Djif u.v.a. Hörspielpark, Berlin 2018. 51 Minuten, 12 Euro.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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