Tobias Hürter: "Das Zeitalter der Unschärfe":Nichts verstanden, trotzdem schön

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Werner Heisenberg (links) beim Umkrempeln des Weltbildes und der Welt selbst. (Foto: SZ Photo)

Tobias Hürter erzählt von Blüte und Niedergang der Atomphysik zwischen 1895 und 1945. Die Anekdoten um Einstein und Heisenberg trösten über das Fehlen fachlicher Erklärungen hinweg.

Von Burkhard Müller

Ein Sommerabend im Paris der vorletzten Jahrhundertwende. Eine kleine Festgesellschaft strömt auf den Rasen, fröhliche Stimmen ertönen. Im Mittelpunkt steht eine Frau im schwarzen Kleid, ihr sonst so angespanntes Gesicht gelöst, denn sie hat zur Feier ihrer Promotion geladen, der ersten naturwissenschaftlichen Promotion einer Frau in Frankreich: Marie Curie. Neben ihr steht Ernest Rutherford, unterwegs auf einer drei Jahre lang verschobenen Hochzeitsreise, Maries Konkurrent auf dem neuen Gebiet der Atomphysik - heute aber ruht der Streit, denn es wird gefeiert!

So beginnt der Wissenschaftsjournalist Tobias Hürter sein Buch "Das Zeitalter der Unschärfe - Die glänzenden und dunklen Jahre der Physik 1895 - 1945". Schon der Einstieg macht klar, dass hier nicht eine Geschichte der Physik, sondern der Physiker vorgetragen werden soll. Es ist eine Art kollektiver Biografie - wenn man will, eine wissenschaftssoziologische Studie, aufgelockert und angereichert durch die anekdotische Erzählung.

Wenigstens brettert keine Berta in Lichtgeschwindigkeit am Bahnhof vorbei

Das macht ihren Reiz und ihre Grenzen aus. Was man hier nicht erwarten darf, ist eine Darstellung der Errungenschaften und Umwälzungen, die in besagtem Zeitraum nicht nur das wissenschaftliche Weltbild, sondern die Welt überhaupt umkrempelten, kulminierend in Hiroshima und Nagasaki. Wie oft haben nicht schon populärwissenschaftliche Werke versucht, uns Einsteins Relativitätstheorie nahezubringen! Immer dort, wo es heißt, das sei doch alles ganz einfach, man brauche sich bloß vorzustellen, wie Anton am Bahnsteig steht, während Berta an ihm mit Lichtgeschwindigkeit vorbeibrettert, weiß der vielfach vorenttäuschte Leser, dass er jetzt gleich überhaupt nichts mehr kapieren wird. Damit hält sich Hürter dankenswerterweise nicht auf. Immer wieder konstatiert er, dass die weltweit führenden Physiker sich gegenseitig nicht verstehen. Wie sollte es da der unbedarfte Leser können?

Und doch wünscht man sich zuweilen, der Autor hätte seinem Publikum etwas mehr zugetraut. In den physikalisch fieberhaft aktiven Zwanzigerjahren stehen die wellenmechanische und die matrizenmechanische Interpretation der Quantenphysik gegeneinander - aber Hürter hält es offenbar für aussichtslos, seinen Lesern auch nur ansatzweise erklären zu wollen, was im hier erforderlichen Sinn eine "Matrize" wäre. Das Stichwort hat zu genügen, versehen mit dem warnenden Marker: Finger weg, höchste Mathematik! Erwin Schrödinger rühmt er wegen "einer der schönsten und wunderbarsten Gleichungen, die je ein menschlicher Geist ersann", doch der Leser bekommt sie nicht zu Gesicht.

Tobias Hürter: Das Zeitalter der Unschärfe. Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 398 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Andernorts setzt Hürter wiederum zu hoch an. Wenn die als ähnlich wunderbar eingestufte Gleichung von Dirac sogar präsentiert wird (sie ist so vollkommen wie eine vom Himmel gefallene Marmorstatue!), rätselt man vergeblich, was jenes notenschlüsselhafte Sonderzeichen zu bedeuten hat, das anscheinend alle Probleme löst.

Und Heisenbergs Unschärferelation erläutert der Autor so: "Man kann nur mit einem von zwei Augen in die Atome schauen: mit dem Ortsauge oder mit dem Geschwindigkeitsauge. Wenn man aber beide Augen gleichzeitig öffnet, sieht man unscharf." Hier fragt sich der Laie nicht nur, was das praktisch heißen soll, "in die Atome schauen", sondern noch mehr, wie sich denn Geschwindigkeit überhaupt feststellen ließe außer durch Kenntnis von mindestens zwei Orten, zwischen denen das betreffende Objekt sich bewegt. Gewiss, das ist die Frage eines Laien. Aber für ihn ist das Buch geschrieben. Und beantwortet wird sie nicht.

Dass Hürter dennoch ein lesenswertes und gut lesbares Buch zustande gebracht hat, verdankt er der günstigen Quellenlage, speziell dem Umstand, dass viele der Beteiligten Tagebuch führten und so ziemlich alle lebhafte Briefschreiber waren. Sie verfügten über die im Zeitalter der sozialen Medien keineswegs mehr selbstverständliche Fähigkeit, ein Bild nicht nur ihrer Aktivitäten, sondern auch ihrer Persönlichkeit zu geben. Einstein, der ewigen Institutssitzungen überdrüssig, unterzeichnet das Protokoll mit "Albert Ritter von Steissbein". Heisenberg erträgt die Sticheleien Wolfgang Paulis nicht und bescheidet ihn: "Es ist wirklich ein Saustall, dass Sie das Pöbeln nicht aufhören können. (...) Die Punkte bedeuten einen Fluch von etwa zwei Minuten Dauer!"

An den besten Stellen erfindet Hürter sogar Dialoge zwischen Einstein und Heisenberg

Paul Dirac, der mittelschwer autistische Züge hat und die Animositäten seiner Kollegen auf dem menschlichen Level nicht begreift, äußert die Vermutung, dass Niels Bohr ein guter Dichter geworden wäre, "weil es in der Dichtung nützlich ist, die Worte ungenau zu gebrauchen" - und ahnt nicht, wie er damit Bohrs Widersacher munitioniert. Die besten Stellen des Buchs sind jene, wo Hürter es darüber hinaus wagt, mündliche Dialoge zu erfinden, zwischen Einstein und Heisenberg, zwischen Heisenberg und Bohr. So gut kennt er seine Protagonisten, dass ihm dieser hochverfängliche Schritt hinüber zum historischen Roman tatsächlich glückt und er in formelfreien improvisierten Reden etwas von Art und Dringlichkeit der Probleme zum Vorschein bringt.

Endgültig und mit trauriger Berechtigung gewinnt das narrative Element das Übergewicht in der Zeit ab 1933, als das zwar zerstrittene, aber innige Genie-Kollektiv von der Gewalt des deutschen Faschismus zerrissen und damit in seiner produktiven Kraft zerstört wird. Jeder muss nun für sich allein seinen Weg finden, Einstein als umjubelter Exilant, Planck als glückloser Opportunist, Heisenberg als Wegbereiter der deutschen Atombombe, die sich, als die Alliierten sie 1945 aufspüren, als ein verlöteter Kanister mit ein bisschen Uran erweist, zur Vertuschung in einer Jauchegrube versenkt. Andere gehen ganz und gar zugrunde, und auch sie vergisst das Buch nicht. Keine der Koryphäen hat nach 1933 mehr eine große Idee hervorgebracht. Dennoch lief, was sie geleistet hatten, auf die Atombombe hinaus: Letztlich funktionierte, was sie angebahnt hatten, in einer Weise, die keiner von ihnen voraussah und die sie zutiefst beschämte, um das Mindeste zu sagen. Hier ist Hürter in jeder Hinsicht auf der Höhe seines Gegenstands.

Das Buch erlaubt dem Leser und der Leserin, an der naturwissenschaftlichen Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilzuhaben, auch wenn sie nicht eigentlich verstehen, was hier passiert ist. Vielleicht geht es nicht anders. Vielleicht ist Hürter bei seiner Einschätzung des Möglichen aber auch zu kleinmütig gewesen. Was in dem engen Rahmen möglich war, den er gewählt hat, das freilich hat er geleistet.

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