Sachbuch "Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke":Ruinen des Größenwahns

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Jähes Ende: Der spanische Architekt Antoni Gaudí wurde 1926 von der Straßenbahn überfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren von den geplanten achtzehn Türmen seiner Kathedrale "Sagrada Familia" erst die vier fertiggestellt, die man noch heute in Barcelona besichtigen kann. (Foto: David Ramos/Getty Images)

Mal bizarr, mal herzzerreißend: Thomas von Steinaeckers Geschichten von abgebrochenen oder tragisch verunglückten Kunstwerken.

Von Sigrid Löffler

Er beabsichtige, "den besten Film aller Zeiten zu drehen", schrieb der Regisseur, doch die Studiobosse winkten ab: An einem weiteren historischen Kostümspektakel über Napoleon waren sie nicht interessiert, nicht einmal, wenn Stanley Kubrick, seit seinem Geniestreich "Odyssee im Weltraum" von 1968 der prominenteste Star-Regisseur der Epoche, den Film drehen wollte. Von diesem monumentalen Vorhaben, das kraft seiner Niedagewesenheit alle Bonaparte-Biopics bisher übertrumpfen sollte, existieren nur ein Drehbuch, 15 000 Fotos von Originalschauplätzen und möglichen Drehorten und ein ganzer Schrank voller Karteikarten des Regisseurs. Doch allein vom Drehbuch sahen sich die Studio-Chefs überfordert: Kubrick träumte davon, Napoleons historische Schlachten akkurat nachzustellen: Von der rumänischen Armee wollte er sich dafür 40 000 Fußsoldaten und 10 000 berittene Soldaten ausleihen. Am Neujahrstag 1969 gab das MGM-Studio in Hollywood bekannt, das Projekt sei abgesagt.

Für Thomas von Steinaecker ist dieses gescheiterte Projekt nur eines von Hunderten Beispielen für nicht fertiggestellte Kunstwerke in Literatur, Musik, Malerei, Plastik, Architektur und Film, seit der Renaissance bis heute, von Michelangelo bis Wolfgang Herrndorf und von Leonardo bis Brian Wilson von den Beach Boys. Sein Buch "Ende offen" ist eine enzyklopädische Sammlung von Werken, die Fragment geblieben sind, stecken geblieben, vom Künstler unvollendet aufgegeben. Er erzählt die Entstehungsgeschichten dieser Werke und die besonderen Umstände, die jeweils zum Abbruch der Arbeit führten. Wobei absichtliche Fragmente den Autor ausdrücklich nicht interessieren, wie er im Vorwort feststellt. Wenig abgewinnen kann er dem ästhetischen Konzept der Romantiker, wonach das einzig gelungene Kunstwerk das Fragment sei, weil es sich erst in der Einbildungskraft des Betrachters vollende und in seiner Unabschließbarkeit auf seine eigene Transzendenz verweise.

In Theodor Fontanes Nachlass fanden sich 150 literarische Bruchstücke, Entwürfe für nie geschriebene Romane und Erzählungen

Steinaecker, Jahrgang 1977, ist selbst einer der vielseitigsten und produktivsten deutschen Gegenwartskünstler. Er pendelt unentwegt zwischen unterschiedlichen Avantgarden, zwischen Sprach-, Sound- und Bildwelten, und ist ein Multi-Tasker: Verfasser von Konzeptromanen, Hörspiel-Autor, Texter von Graphic Novels, Journalist, Regisseur und Dokumentarfilmer, vor allem von TV-Dokus über Komponisten des 20. Jahrhunderts. Das gibt ihm den weiten Überblick, der ihn befähigt, für sein Kompendium Beispiele aus den unterschiedlichsten Kunstbereichen heranzuziehen.

Berühmte unvollendete Projekte sind darunter, wie etwa Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", Mozarts Requiem oder Antoni Gaudís Kathedrale "La Sagrada Familia" in Barcelona. Doch Steinaecker widmet auch solchen unfreiwilligen Fragmenten ganze Kapitel, an die man nicht sofort denken würde. Da finden sich sonderbare, utopische, exzentrische, abstruse, bizarre, größenwahnsinnige, vergessene, jäh abgebrochene und tragisch verunglückte Projekte.

Thomas von Steinaecker: Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 604 Seiten, 35 Euro. (Foto: N/A)

Beispielsweise die Hobbybastelei, an der der fromme Hausmeister James Hampton mehr als ein Jahrzehnt lang in einer Garage in Washington werkelte, und die er "Thron des dritten Himmels der nationalen Jahrtausend-Generalversammlung" nannte. Er verwandelte die Garage in eine Schatzkammer aus Sperrmüll, in einen von Gold- und Silberfolie glänzenden, von Glühbirnen erleuchteten und von Spiegelscherben funkelnden Thronsaal für die Wiederkehr Christi. Heute ist Hamptons unvollendetes Thron-Ensemble in einem eigenen Saal im Smithsonian Museum of American Art in Washington zu besichtigen.

Auch die drei Merzbauten von Kurt Schwitters gehören in diese Reihe der bizarren unvollendeten Architekturfantasien. Vom ersten Merzbau, einer grandiosen Überwucherung seines Elternhauses in Hannover, existieren nur noch einige Fotos: Bei der Bombardierung der Stadt erhielt das Haus einen Volltreffer, Schwitters' radikales Lebenswerk ging in Flammen auf.

Gerade solche entlegenen Beispiele machen die Lektüre überraschend und faszinierend. "Ende offen" ist ein einzigartiges Buch, in dem man endlos blättern, kreuz und quer herum- und sich überall festlesen kann. Es ist erstaunlich, wie viele Romane, Musik-Alben, Sinfonien, Bauwerke, Gemälde, Filmprojekte abgebrochen wurden und unvollendet geblieben sind. Wer weiß schon, dass sich in Theodor Fontanes Nachlass 150 literarische Bruchstücke fanden, Entwürfe für nie geschriebene Romane und Erzählungen. Und wer weiß schon, dass es einen unvollendeten Film mit Romy Schneider gibt mit dem Titel "Die Hölle". Die 15 Stunden Drehmaterial sind in irgendeinem Archiv verschwunden. Wie überhaupt die Filmkunst besonders anfällig fürs Scheitern zu sein scheint. Nicht nur Megalomanie und Hybris von Regisseuren, sondern ebenso die Abhängigkeit der Filmindustrie von oft banausischen Finanziers und Studiobossen sind häufige Gründe für den Abbruch von Filmprojekten.

Orson Welles ist der König des Scheiterns, niemand hat mehr unvollendete Projekte hinterlassen als der Regisseur von "Citizen Kane"

Dem "König des Scheiterns", dem größenwahnsinnigen Genie Orson Welles, widmet Steinaecker ein eigenes Kapitel: Niemand hat mehr unvollendete Filmprojekte hinterlassen als der Regisseur von "Citizen Kane". Keiner hat einen größeren Friedhof beiseitegelegter Projekte vorzuweisen. Jeder Film, der nach "Citizen Kane" kommen sollte, wurde ein Desaster, denn Welles hatte eine Abschluss-Schwäche: Ehe er einen abgedrehten Film zu Ende schnitt und abschloss, hatte er längst parallel ein oder zwei andere Filme begonnen, weilte zu Dreharbeiten im Ausland und war sonstwie unabkömmlich. Er überließ es den Studios, seine monumentalen, vielstündigen Filmtorsi auf Kinolänge zu kürzen und beschwerte sich dann, sie hätten seine Meisterwerke "mit dem Rasenmäher" geschnitten.

Und erst recht die Literatur! Ein wahres Schlachtfeld unvollendeter Romane: von Marcel Proust bis Heimito von Doderer, von David Foster Wallace bis Hermann Burger. Dass Franz Kafka in unüberwindbaren ästhetischen Selbstzweifeln stecken blieb und nur Romanfragmente hinterließ, ist allgemein bekannt. Im Falle Robert Musils weicht Steinaecker vom cool referierenden Berichtston ab, in dem er seine Beispiele für verunglückte Kunstwerke zumeist vorträgt. "Der Mann ohne Eigenschaften" war Musils Lebensunglück, er quälte sich jahrzehntelang, und er ist daran gestorben. Er hinterließ einen unvollendeten Roman über die Gründe für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, während der Zweite vor der Tür stand und seinem Roman den Boden entzog. Diese Tragödie liest sich bei Steinaecker herzzerreißend.

Von Thomas Bernhard geistert ein verschollenes Romanprojekt mit dem Titel "Neufundland" durch den Nachlass. Der geplante "Todesarten"-Zyklus von Ingeborg Bachmann ist ein monumentaler Steinbruch von Fragmenten. Und von W. G. Sebalds "Korsika"-Roman existieren nur Entwürfe, Skizzen, Notizen und Aufzeichnungen in zwei Fassungen, ehe der Autor alle Materialien in eine Schachtel stopfte und als gescheitert beiseitelegte.

Aber muss man wirklich all diese unvollendeten Werke gescheitert nennen? Muss man sie als misslungen abqualifizieren, so, als habe der Künstler sich übernommen, sich verspekuliert, es nicht hingekriegt? Der Untertitel "Das Buch der gescheiterten Kunstwerke" ist eher salopp als präzise und führt in manchen Fällen in die Irre. Nicht alle Fragment gebliebenen Kunstwerke sind Ruinen des Größenwahns oder des Versagens. Gaudí ist an seiner Kathedrale nicht gescheitert. Der Architekt wurde 1926 in Barcelona von der Straßenbahn überfahren, als bei seinem Tod gerade mal vier der geplanten achtzehn Türme der "Sagrada Familia" fertiggestellt waren. Und Puccini ist an "Turandot" nicht gescheitert. Ein tödlicher Herzinfarkt 1924 war schuld, dass die fast fertige Oper ein Torso blieb.

Geschenkt. Was uns Steinaeckers Buch der nicht realisierten Kunstwerke auf einzigartige Weise bewusst macht, ist die besondere Aura, die Fragmente entwickeln, indem sie das Utopische der Kunst erahnen lassen. Es ist unsere Fantasie, die diese Torsi ergänzt und das Unfertige vollendet. Erst die Fantasie macht das Fragment zum Mythos.

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