Theater:"Die eigentliche Frontlinie ist die der sozialen Ungleichheit"

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Auch die Berliner Schaubühne muss wegen der Coronavirus-Pandemie Kurzarbeit anmelden. (Foto: dpa)

Wie wird die aktuelle Krise das Zusammenleben verändern? Thomas Ostermeier, Leiter der Berliner Schaubühne, über Theater und Gesellschaft in Corona-Zeiten.

Interview von Peter Laudenbach

Die Theater sind zu, die Künstler zu Hause. Wir erreichen den Regisseur Thomas Ostermeier am letzten Tag seiner freiwilligen Quarantäne, in die sich der künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne begeben hat, weil jemand in seiner Umgebung positiv auf Corona getestet wurde. Die Schaubühne hat für die meisten ihrer Angestellten Kurzarbeitergeld beantragt.

SZ: Herr Ostermeier, wie kommen Sie durch die Krise?

Thomas Ostermeier: Wir retten die Welt, indem wir einfach im Bett bleiben, davon habe ich schon immer geträumt. Aber in Wirklichkeit verbringe ich den ganzen Tag in Videokonferenzen mit den Kolleginnen und Kollegen im Theater.

Wird Kunst in einer Situation, in der es um das Überleben vieler Menschen geht, zum verzichtbaren Luxus, den wir uns erst wieder in besseren Zeiten leisten können?

Das könnte sein. Aber es könnte auch noch viel schlimmer kommen, wenn die Krise sehr lang werden sollte. So wie man jetzt offenbar in den Krankenhäusern in Italien entscheiden muss, welche Kranken die lebensnotwendige Behandlung erhalten, fragt man sich vielleicht nach der Krise, welche Firmen und Institutionen man braucht und auf welche man verzichten kann. Ich weiß nicht, ob die Politik dann alle Kultureinrichtungen retten will. Ich erinnere mich an die Zeit der Finanzkrise, als wir vom damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins immer hörten, dass wegen der angespannten Haushaltslage und der Rettungsschirme für die Banken leider nicht genügend Geld für die Kultur da sei. Falls es nach der Corona-Krise wirklich eng wird, kann sich das in weit größerer Heftigkeit wiederholen. Wenn nach den Rettungspaketen die Sparhaushalte kommen, wird das Folgen für die Kultur haben.

Thomas Ostermeier hat einen Online-Ersatzspielplan. Die Schaubühne streamt täglich eine Aufzeichnung aus ihrem Archiv. (Foto: Christoph Hardt/ imago)

Nicht nur für die Kultur .

Auch für den ganzen Sozialbereich, die Kitas, alle möglichen Initiativen und Hilfsangebote. Das kann eine Verarmung der gesamten Stadtkultur bedeuten. Die Krise löst jetzt viel Empathie und Solidarität aus, aber ich fürchte, je länger sie dauert, desto deutlicher wird sie zur sozialen Polarisierung beitragen. Die Solidarität nach innen geht schon jetzt mit einer großen Brutalität und Mitleidlosigkeit nach außen einher. Die massiven Menschenrechtsverletzungen an der griechischen Grenze scheinen kaum jemanden zu stören. Das Virus wirkt wie ein Brandbeschleuniger, der die soziale Härte des Kapitalismus noch einmal verschärft. Arme leiden mehr unter der Corona-Krise als die Wohlhabenden. Ausgangsbeschränkungen und geschlossene Schulen bedeuten für eine Alleinerziehende in einer kleinen Sozialwohnung mit zwei Kindern und geringem Einkommen etwas anderes als für Gutverdiener mit Au-pair-Mädchen, Haus und Garten.

Kann Kunst dazu beitragen, gesellschaftliche Krisen, wie wir sie jetzt erleben, besser zu verstehen und zu verarbeiten?

Ja, das ist eine Hoffnung. Aber um ehrlich zu sein, kann ich mir das leider erst für die Zeit nach der Krise vorstellen. Jetzt ist es eher ein Überwintern. Wir streamen jeden Abend die Aufzeichnung einer Schaubühnen-Inszenierung, das sehen bis zu 20 000 Leute. Wir haben wahnsinnig viele Zuschauer in China, dort waren wir auch sehr häufig mit Gastspielen unterwegs. Wir haben in den letzten Tagen einen großen Zuwachs an Followern bei Instagram bekommen. Und das Londoner Magazin Time Out - das sich jetzt in Time In umbenannt hat - hat einen Artikel veröffentlicht mit der Headline "The world's coolest theatre is streaming a play every night for free". Das ist ein sehr schönes Feedback.

Es gibt also ein Bedürfnis nach Theater?

Offenbar, selbst in dieser Schwundform einer Fernsehaufzeichnung. Nach der Krise kann Theater eine neue Bedeutung bekommen, auch als Ort, an dem man die Erfahrung einer Aufführung miteinander teilt. Es wird wahrscheinlich einen Hunger nach Gemeinschaftserlebnissen in einem Konzert oder im Theater geben. Zumindest wenn wir wieder an die kulturelle Infrastruktur der Zeit vor der Krise anknüpfen können und nicht alles im Sparzwang infrage gestellt wird. Vielleicht werden wir eine ähnliche Situation wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erleben, als es ein enormes Bedürfnis nach einem Theater gab, das die großen politischen und gesellschaftlichen Fragen verhandelt hat. Andererseits war das auch die Hochzeit des deutschen Heimatfilms.

Wie wird die Krise das gesellschaftliche Zusammenleben und die Bereitschaft zu praktischer Solidarität verändern?

Dann heißt die Frage: Wie wollen wir leben? Diese Fragen wurden schon vor der Krise gestellt. Auch da ist die Pandemie nur ein Katalysator der Debatten und Konflikte, die ohnehin stattfinden. Ich teile nicht die romantische Hoffnung, dass die Pandemie zu so etwas wie einer Infragestellung des globalen Kapitalismus führen wird. Ich bin auch skeptisch, was die Erwartung angeht, man könne mit Kunst zum Beispiel mehr Bereitschaft zu Solidarität und Empathie für die Schwachen erreichen. Veränderungen müssen in sozialen Bewegungen erkämpft werden. Macron hat Teile seiner neoliberalen Rentenreformen zurückgenommen, weil es massive Streiks und Massenproteste dagegen gab, und nicht, weil sich zwei, drei Theateraufführungen kritisch damit auseinandergesetzt haben.

Wozu brauchen die Menschen in gesellschaftlichen Krisensituationen dann Kunst und Theater?

Ich muss zum Beispiel oft daran denken, dass zu Shakespeares Zeit die Pest in London gewütet hat. Der Tod war immer sehr nah. Vielleicht löst das eine andere Lebensgier aus, man will den Moment genießen, der einem noch bleibt. Ich glaube, dass man die Erwartungen an das Theater überfrachtet, wenn man es mit einer Sinnstiftungsinstanz verwechselt oder erwartet, dass das Theater es besser wissen sollte als der Rest der Gesellschaft. Andere Disziplinen sind da vielleicht ergiebiger, etwa Philosophie oder Soziologie. Das Theater hat andere Instrumente zur Verfügung, beispielsweise um Konflikte durchzuspielen und sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Aber wie will man mit Theater auf Biologie und Viren reagieren? Die eigentliche Frontlinie ist die der sozialen Ungleichheit. Wir können nur dort weitermachen, wo wir aufgehört haben, bevor die Theater geschlossen wurden, wahrscheinlich unter verschärften Konditionen. Und vermutlich mit einer höheren Sensibilität der Zuschauer dafür, wie empfindlich und verletzlich das menschliche Leben ist. Diese Verletzlichkeit teilen wir miteinander.

© SZ vom 03.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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