Theorie:Die Welt in einem Schneekristall

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Wolfgang Hottner erkundet die "Poetik des Anorganischen".

Von Thomas Steinfeld

Im Frühjahr 1780, knapp fünf Jahre nach der Ankunft in Weimar, übernahm Johann Wolfgang von Goethe die Leitung der herzoglichen Bergwerkskommission. Vorausgegangen war der Versuch, die Bergwerke in Ilmenau wieder in Betrieb zu nehmen und zur Förderung von Kupfer, Silber und Blei zurückzukehren. Begleitet wurde dieses nur zum Teil ökonomische Projekt von einer Begeisterung für Geologie, Mineralogie und Petrologie, an der Goethe selbst während seiner ersten Dekade in Weimar in einem so hohen Maß teilhatte, dass er einen "Roman über das Weltall" schreiben wollte: "Eine der lächerlichsten Genieperioden war die bergmännische in Weimar, als die Bergwerke in Ilmenau wieder gangbar gemacht werden sollten", berichtete später Karl August Böttiger, die Klatschbase des Musenhofes. "Da war der Mensch gar nichts, der Stein alles." Lange währte die Periode nicht.

Der "Ästhetik und Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert" ist nun ein Buch des Berliner Literaturwissenschaftlers Wolfgang Hottner gewidmet, in dem nicht nur die Geschichte jener Begeisterung rekonstruiert, sondern diese auch in den Zusammenhang der frühen Naturwissenschaften gebettet wird. Denn es gibt vor allem für das Interesse an den Kristallen ein Vorher und ein Nachher: Vorher herrscht das Stufenmodell von den drei Reichen der Natur, der Steine, der Pflanzen und der Tiere, an deren Spitze der Mensch steht und die allesamt Teil einer göttlichen Ordnung sind. Nachher ist das Anorganische bloße Materie, die dem Leben als Gleichgültiges und Totes gegenübersteht. So ist es im Grunde genommen bis heute. Dazwischen aber wird das Steinerne, das Metallische und Kristalline in seiner scheinbaren Grund- und Zwecklosigkeit zum Gegenstand einer spekulativen Naturforschung, die ein großes künstlerisches Interesse auf sich zieht, vor allem in der beginnenden Romantik.

Das Nachdenken über Steine eröffnete den Gelehrten eine Vorgeschichte

Wolfgang Hottner schlägt einen weiten Bogen, in dessen Mitte Immanuel Kant und Johann Wolfgang Goethe stehen. Für den einen sind Schneekristalle Anlass, sich vom Glauben an den göttlichen Ursprung physischer Ordnungen abzuwenden und zu einer kritischen Ästhetik überzugehen, die Raum für das Naturschöne lässt. Der andere beginnt mit praktischer Naturforschung und geht zu poetologischen Reflexionen über das Gesteinswesen über, um sich dann eher den Pflanzen zuzuwenden (tatsächlich verliert er die Geologie nie ganz aus dem Blick). Als alter Mann kehrt Goethe zu seinem frühen Gegenstand zurück, indem er eine der zentralen Gestalten der "Wilhelm Meister"-Romane in "Montan" verwandelt, einen Repräsentanten des Anorganischen.

Den Weg von der Physikotheologie zu einer modernen, vitalistischen Konzeption des Lebens verfolgend, behandelt Wolfgang Hottner die Theorien über den Schnee, wie sie von Johannes Kepler (1611) und René Descartes (1637) formuliert wurden, er erläutert, was Christian Samuel Weiss meint, wenn er die Kristalle zu "gemeinkünstlichen Individuen" (1803) erklärt, und er lässt verständlich werden, wie Novalis auf den Gedanken kommt, die Kristallisation mit einer "Atmosphäre des Dichters" zu verknüpfen.

Im Nachdenken über Steine eröffnete sich für die Gelehrten jener Zeit eine Vorgeschichte, die weit über den Menschen hinausging und alle Vorstellungen von Anfänglichkeit, wie sie bis dahin von der Theologie oder auch von der Philosophie vertreten worden waren, in Frage stellte. Die Grundlage der Erde sei der Granit, meinten die frühen Geologen, in diesem Gestein entstehe gleichsam Wirklichkeit, als tote Welt. Der späte Goethe glaubte in solchen Spekulationen nicht nur eine Bestätigung seiner "vulkanistischen" Überzeugung erkennen zu können, also der Annahme, die Erde sei "sanft" entstanden, nämlich durch Ablagerung und Erosion. Vielmehr benutzte er sie auch zur Konstruktion der "Wanderjahre", seines letzten Romans, in dem er dem Helden Wilhelm, der an jeder Stelle "grünen" kann, den schweigsamen und abweisenden Montan gegenüberstellt. Das ist zwar komplementär gedacht. Aber es kann kein Zweifel daran aufkommen, wie scharf sich nunmehr die Sphären gegenüberstehen: "Diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen!"

In welchem Zustand sich ein akademisches Fach befindet, lässt sich am einfachsten an den Qualifikationsarbeiten erkennen, die es hervorbringt.

Wolfgang Hottners Buch über die "Kristallisationen" war eine Doktorarbeit, leistet aber weitaus mehr, als man von einer Dissertation erwarten kann: Ein bislang allenfalls an den Rändern erschlossenes Wissensgebiet tut sich darin auf, mit Implikationen nicht nur für das Verständnis der Literatur jener Zeit, sondern auch für die Geschichte der Naturwissenschaften.

Wolfgang Hottner: Kristallisationen. Ästhetik und Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 280 Seiten, 29,90 Euro.

© SZ vom 09.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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