Theorie der Gewalt:Schreckenskammern

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Wer Gewalträume betritt, wird Gewalt ausüben: Eine düstere Anthropologie von Jörg Baberowski schließt an seine Studien zum Terror des Stalinismus an.

Von Gustav Seibt

Das 20. Jahrhundert hat die Menschheit mit einem scheinbar neuen Typus des Gewaltverbrechers bekannt gemacht: Es sind "ganz normale Männer", nicht selten liebevolle Familienväter, ordentliche Staatsbeamte, durchschnittliche Soldaten und Polizisten, die sich ungeheuerliche Grausamkeiten zuschulden kommen lassen, teils als Organisatoren, teils als Ausführende, oft auch als Zuschauer, die das Schreckliche zulassen, ohne einzuschreiten. Diese Täter wirken in ihren normalen sozialen Bezügen keineswegs verroht, manche Großverbrecher wie der Vegetarier Hitler oder der Naturschützer Himmler zeigten sogar persönliche Abscheu vor Blut: Für sie war der Massenmord staatliche Pflicht.

Der Historiker Jörg Baberowski hat als herausragender Kenner des Stalinismus und seiner Verbrechen seit Jahren mit diesem beunruhigenden Phänomen zu tun, dem Gewaltexzess inmitten der modernen Gesellschaft. Sein Buch "Räume der Gewalt" schließt sich mit zwei vorangehenden Studien zum stalinistischen Terror ("Der Rote Terror" von 2003, "Verbrannte Erde" von 2012) zu einer düsteren Trilogie des Schreckens zusammen. Der Schlussband bietet grundsätzliche Reflexionen zu einer überreichen Empirie, die hier mit Beispielen aus vielen anderen Terrorregimen und Kriegen vom Holocaust, den Roten Khmer bis zu den jüngsten Massenmorden in Afrika ergänzt wird. Theorie ist in der dunkel schimmernden, mit Augenzeugenberichten gestützten Darlegung immer auch Anschauung, Vergegenwärtigung. Die Lektüre ist über weite Strecken verstörend.

"Der Mensch wird nicht, was er ist, er ist immer schon komplett gewesen."

Baberowskis These ist schon im Titel enthalten. Es sind nicht individuelle Dispositionen oder ideologische Motive, die die Gewalt erklären. Von "historischer Voraussetzungsprosa" hält Baberowski nichts, ebenso wenig von entwicklungsgeschichtlichen Ableitungen: "Der Mensch wird nicht, was er ist, er ist immer schon komplett gewesen." Wenn man ihm Gelegenheit gibt, es straflos zu tun, dann wird er töten und quälen, Macht ausüben und terrorisieren. Diese These wird interessant in der Auseinandersetzung mit ihren Konkurrenten: Gibt es nicht einen "Prozess der Zivilisation", der Affektdämpfung, Aggressionsabbau, Steigerung von Empfindsamkeit, ja Mitleid erzeugt? Und ist es nicht im Gegenzug zu dieser langwierigen und mühsamen Entwicklung die Moderne, die zu neuen Zivilisationsbrüchen führt, indem sie Gewalt effizient organisiert, arbeitsteilig erträglich macht, durch Ideologien, Definitionen und die planmäßige Aussonderung von Opfergruppen rechtfertigt?

Solche Gewalttheorien diskutiert Baberowski eingehend und kenntnisreich. Dass die Theorie vom Prozess der Zivilisation empirisch fragwürdig ist, ist seit Langem bewusst - weder waren vormoderne Epochen so schamlos und grausam wie oft unterstellt, noch war der moderne Staat mit seinem Gewaltmonopol so friedensstiftend wie erhofft: Es war der Staat, der die Möglichkeiten zur Gewalt, die er im Einzelnen verbot, im Großen erst recht bündelte, der im Übrigen an seinen Rändern, also in Kolonien und Ausbeutungsgebieten, unerhörte neue Exzesse zuließ.

Räume der Gewalt, Räume ohne Ordnung, hier herrscht das Gesetz des Stärkeren - Szene aus "Apocalypse Now", mit Martin Sheen. (Foto: Rue des Archives/RDA/SZ Photo)

Baberowski hält aber auch nichts davon, die Gewalt der Moderne als "strukturelle Gewalt" zu anonymisieren und auf "Verhältnisse" zu schieben. Für weichgespülte Theorien seit den Siebzigerjahren, die jede soziale Ungleichheit, jede Benachteiligung bis in linguistische Feinheiten zur Gewalt erklären, hat er nur Geringschätzung übrig. Gewalt braucht Täter, die sie anordnen und ausführen, sie braucht Opfer, die sie erfahren und dabei mit einem existenziellen seelisch-körperlichen Vertrauensverlust bezahlen, den Baberowski immer wieder beeindruckend verbalisiert. Gewalt ist nie sauber, sie ist blutig, stinkend, grässlich.

Und sie ist eine permanente Möglichkeit. Jeder normale, scheinbar zivilisierte Mensch kann dem Rausch der Gewalt verfallen, der Verführung der Macht, dem Druck des Mitmachens, dem Trug der Normalität von Gewalt. Baberowski scheint individuelle Dispositionen nicht ganz abzustreiten, denn immer wieder spricht er von "Psychopathen" und "Sadisten", die unter bestimmten Bedingungen ihre Erfüllung, ihr Paradies finden, aber diese immer vorhandenen, nie messbaren Triebfaktoren sind für ihn nicht das Entscheidende.

Das ist die schicksalhafte Schleife des Buches: Gewalt ist immer nur suspendiert, die Bestie schläft nur

Entscheidend sind "Situationen", "Räume" der Gewalt. Dabei wirkt Baberowskis reiche Empirie allerdings unentschieden: Denn einmal sind es planmäßig eröffnete Räume wie Kriege, Straf- und Vernichtungslager, Gefängnisse und angeordnete Pogrome, dann wieder ist es der schiere Zusammenbruch von Ordnung, der die Gewalt entfesselt, das "große Du-darfst" (Reemtsma), bei dem sich vorher unauffällige Täter ausleben.

In dieser Ambivalenz von geordnetem und ungeordnetem Gewaltraum liegt nun die eigentliche Pointe von Baberowskis Überlegungen. Da Gewalt als Möglichkeit immer präsent ist, kann sie auch die Mittel zu ihrer Einhegung, also die Ordnung selbst befallen. Das Gewaltmonopol des Staates, das die Gewalt von den Straßen verbannt, bündelt die Gewaltmöglichkeiten zu ganz neuen Exzessen, die an privilegierte Täter delegiert werden. Die Räume der Gewalt sind also Räume der Unordnung, wo das Recht des Stärkeren herrscht, aber oft sind sie ordnungsgemäß eingerichtet worden.

Das ist die anthropologische, schicksalhafte Schleife, die Baberowskis Buch seinen verstörend düsteren, zuweilen sogar zynischen Ton verleiht. Gewalt ist immer nur suspendiert, die Bestie schläft nur. Daher endet der Traktat in knappen Überlegungen zum "Geheimnis der Macht". Macht beruht auf glaubwürdiger Gewaltandrohung, Macht ist verstetigte Gewalt. Herrschaft aber ist verstetigte Macht. Erst Macht und Herrschaft schaffen Ordnung, die für Baberowski die Voraussetzung von Lebenssicherheit, Weltvertrauen und damit Freiheit ist. Schon lange wurde die Ordnung in deutscher Sprache nicht mehr so besungen wie hier, und zwar die Ordnung an sich.

Das aber heißt: Von Recht und Gerechtigkeit ist hier die Rede nicht, jedenfalls nur am Rande. Und das ist schade, nicht aus Gründen politischer Korrektheit, sondern aus systematischen Gründen. Ordnung lässt sich ja überhaupt nur regelbasiert denken, sie sichert Verlässlichkeit nicht nur als Schutz des verletzbaren, gewaltoffenen Leibes, sondern auch als Verhaltensanweisung. Daher ist eine Ordnung, die nicht mindestens rechtsförmig ist, kaum vorstellbar. Damit ist man in einem Diskussionsraum mit Hobbes, de Maistre und Carl Schmitt, den Baberowski natürlich ebenso gut kennt wie die Zivilisations- und Machttheorien von Norbert Elias, Michel Foucault, Jan Philipp Reemtsma oder Wolfgang Sofsky, die er ausführlich zu Wort kommen lässt.

Ja, die Gewalt gehört wohl zum Menschen und ist immer abrufbar (wie übrigens auch das Mitleid, von dem Baberowski ganz schweigt). Besser also, das zu wissen. Aber eine Ordnung, die nicht irgendwann auch als Rechtsordnung erfahren und gelebt werden kann, bleibt instabiler, gewaltanfälliger als die Ordnung, die ausschließlich auf der Drohung beruht.

Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 263 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.

© SZ vom 21.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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