Theodor Herzl:Der verlorene Körper

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"Ein in die Zukunft übertragenes Heimweh": Theodor Herzls Leben und Visionen und sein Traum vom "Judenstaat", erzählt in einer Graphic Novel von Camille de Toledo und Alexander Pavlenko.

Von Fritz Göttler

Der Mann hat einen Traum, Theodor Herzl, er will den Juden einen Staat, ein Land, verschaffen, das sie ihres nennen können, will ihr Exil beenden, das sie zwingt, bei fremden Völkern unterzukommen und sich denen zu assimilieren. Bislang haben vermögende Juden, Maurice de Hirsch oder Baron de Rothschild, Ländereien angekauft in aller Welt, auf denen die ärmeren Juden sich ansiedeln konnten. Aber die Lösung dieser Frage wird nur national zu lösen sein, durch einen "Judenstaat", so der Titel von Herzls berühmter zionistischen Schrift, entstanden unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre. Politik im Dienst einer Erlösungsvision. Den König von Zion hat Karl Kraus Herzl genannt, das Traumland war Palästina, "unsere historische Heimat", aber auch Uganda oder Mesopotamien waren im Gespräch. Herzl reibt sich auf in den politischen Verhandlungen um diesen Staat, sucht die Vermittlung der Briten, das Einverständnis der Araber. Er stirbt erschöpft 1904, bevor der Traum realisiert werden kann. Erst nach den Schrecken von Weltkrieg und Holocaust wird der Staat Israel gegründet werden.

Camille de Toledo und Alexander Pavlenko erzählen das Leben Herzls und seine Visionen vom Zionismus als Doppelbiografie in einem Comic. Ins Leben Herzls ist das des Ilya Brodsky verschränkt, der Herzls Visionen und Entscheidungen nachforscht, und manchmal reagieren von Bild zu Bild die beiden Geschichten direkt aufeinander. Brodsky ist ein Junge, der 1881 bei einem Pogrom mit seiner Schwester aus seinem Schtetl fliehen muss, sie schlagen sich nach Wien durch, dann weiter nach London. Im "Spiel von Elend und Exil" sind die Schrecken der Vertreibung auf ein Spielbrett gebannt: "Grenze. Sie setzen sechs Runden aus. Sie denken an den Auszug aus Ägypten." In Wien jobbt Ilya bei einem Fotografen, in der Dunkelkammer fühlt er sich geborgen, und er begegnet Theodor - die großbürgerliche Familie Herzl lässt ein Familienfoto machen.

Die Herzls kamen aus Budapest nach Wien. Tivadar, der sich schließlich Theodor nannte, will als Fin-de-siěcle-Schriftsteller reüssieren, am Burgtheater, er geht schließlich nach Paris als Korrespondent für die Neue Freie Presse. Dort beginnt er die Idee von einem eigenen Judenstaat zu entwickeln, für all die Verzweifelten, Heimatlosen, sozial Deklassierten. In seinem Roman "Altneuland" vollendet er diese Idee. Altneuland, darin manifestiert sich die Utopie, utopisch weil unlösbar.

Camille de Toledo, Alexander Pavlenko: Herzl - Eine europäische Geschichte. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Eva-Maria Thimme. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 352 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Die Graphic Novel setzt ein in London, 1932, mit dem Tod Ilyas, eine Fiktion aus dem Jenseits. Ein Schreibtisch, darauf Papiere und Hefte, an den Wänden vollgepackte Bücherregale, Agnon, Scholem Alejchem, Trotzki, sie werden im Verlauf des Buches immer wieder auftauchen. Ein Freitod. "Ich heiße Ilya Brodsky. Ich bin soeben gestorben." Ein aufgeschraubter Füller, dunkle Flecken, es ist nicht Tinte, sondern Blut, Ilyas Kopf liegt an der Schreibtischkante. Vor dem Fenster prasseln Regen, der wird oft wiederkehren im Buch, und dichtes Schneetreiben.

Camille de Toledo erzählt die Geschichten Ilyas und Herzls in faszinierender Dichte, voller historischer Details und Reflexionen. In London engagiert sich Ilya in sozialistischen Kreisen, auch Marx ist in der Stadt, er gilt bei den Genossen als unlesbarer Gelehrter. Später spricht seine Tochter bei einer Veranstaltung im Londoner East End.

Alexander Pavlenkos Bilder sind wie Linolschnitte, bräunlich getönt, die historische, gehetzte Atemlosigkeit macht die Figuren schemenhaft, als wären sie Leerstellen im historischen Getriebe. Blitzartig tauchen historische Gestalten und Ereignisse auf, Karl Lueger, der antisemitische Bürgermeister von Wien, Max Nordau, der sich zum unermüdlichen Mitstreiter Herzls entwickelt, Hofmannsthal und Schnitzler, man kann sie erkennen, bevor sie eindeutig benannt werden.

Schon Ende 1929 ist absehbar, dass es das friedliche Zusammenleben von Israelis und Arabern, wie Herzl es sich erträumte, nicht geben wird. Eine politische Wertung des "Judenstaats" will der Band nicht geben, er bleibt auf Herzl konzentriert, auf den Zionismus als "ein in die Zukunft übertragenes Heimweh". Das große Projekt ist in diesem Buch Erinnerungs- und Trauerarbeit - so taucht auch Freud hier auf und die Psychoanalyse -, die Erinnerungen an die geliebte ältere Schwester, die in Pest starb. Was wie eine Vision für die Zukunft aussieht, ist eigentlich ein Blick zurück. "Im Lauf der Jahre sollte ein Körper den anderen ersetzen: der Körper der Juden, der erträumten, erhofften jüdischen Nation trat an die Stelle des Körpers seiner Schwester ... Als eine Hoffnung setzte Herzl das in die Zukunft, worüber er in der Vergangenheit nicht weinen konnte."

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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