Theater:Stationendrama

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Auf der Route III durch die Ludwigsvorstadt werden Teilnehmer diesem Herrn von der Young Boy Dancing Group begegnen. (Foto: Young Boy Dancing Group)

Bei "X Shared Spaces" werden unbekannte Orte der Stadt bespielt

Von Christiane Lutz, München

Die S-Bahn-Station Freiham ist ganz schön weit draußen, wenn man sich normalerweise innerhalb des Mittleren Rings bewegt. Der Weg zu ihr dauerte rund drei Stunden und führte vorbei an Wohnblöcken, Shihsa-Bars, Autowerkstätten und durch Straßen, die sich sehr unmünchnerisch anfühlen. Aber darum geht es ja bei "X Shared Spaces", dem letzten Großaufschlag der Kammerspiele vor der Sommerpause. Drei Routen haben die Kuratoren Helena Eckert, Christoph Gurk und Martin Valdés-Stauber in drei Stadtteilen zusammengestellt, eine durch Neuaubing. Auf jeder warten acht Stationen, in denen Künstler Formate von rund zehn Minuten erschaffen haben. Dabei The Agency, Henrike Iglesias, Künstler wie Britta Thie und Florentina Holzinger und ein paar Kammerspiele-Schauspieler.

Im 16. Stock eines Hochhauses wartet bei Station eins ein verstörender Trip mit der Virtual-Reality-Brille. Jetzt ist das Zimmer bewohnt von selbst ernannten Neu-Neuaubingern, einer Internet-Generation, die sich hier eine Kopie der realen Welt erschaffen hat. Station zwei, ein paar Straßen weiter: Eine syrische Familie lädt in ihre Wohnung und serviert gutes Essen. Station drei: In einem Boxclub kämpfen zwei Männer. Über Kopfhörer donnern Geräusche ins Ohr, eine Übersetzung der Wucht ihrer Schläge in Sound. Station vier: eine kleine Peepshow mit Kinan Hmeidan vom Open-Border-Ensemble. Durch zwei Löcher in der Zimmertür eines heruntergekommenen Hotels beobachtet man ihn beim Duschen. Als man, wie aufgefordert, klopft, will er panisch die Flucht ergreifen.

2002 erfand Matthias Lilienthal die Reihe "X Wohnungen", die durch unbekannte Stadtteile in private Wohnungen führte. Lilienthal exportierte die Idee in alle möglichen Städte, sie wurde vielfach kopiert.

Die Ankündigung, es solle bei der neuen Version "X Shared Spaces" darum gehen, wie die Digitalisierung und mit ihr zusammenhängende Geschäftsmodelle unseren Alltag verändern, könnte in die Irre führen. Denn viel dominierender als dieser arg theoretische Überbau ist, zumindest auf der Neuaubing-Route, die Erfahrung des sich permanenten Neu-Sortierens. Wer diese Routen geht, ist mal Eindringling, Voyeur, Versuchskaninchen. Schüler dann, wenn die Künstlergruppe "Die Freie Polizeiklasse" in Vor- und Nachteile des Polizeiaufgabengesetzes einführt. Jede Situation, jeder Raum muss neu erobert werden. Das ist anstrengend und die Wege sind weit (Wasserflaschen mitnehmen!). "Shared", also "geteilt" werden hier vor allem der Lebensraum und die Gegenwart, die für jedes Individuum eine andere Herausforderung darstellt.

Während sich die syrische Familie (eingerichtet von Amir Reza Koohestani) um einen Alltag bemüht, poliert Medienkünstlerin Britta Thie in der letzten Station ihr digitales Erscheinungsbild. Sie tut das in einem Container direkt an jener riesigen Baufläche, auf der bald 10 000 neue Wohnungen entstehen. Ein Ausblick auf eine Zukunft, die viel Platz für noch mehr Geschichten und noch mehr Gleichzeitigkeit bietet.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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