"Stage Fright" von The Band:"Hier geht es darum, was ich will"

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"Mir fehlte bei diesem Album immer das Gefühl der Erfüllung. Jetzt habe ich es endlich." - Gitarrist Robbie Robertson 1969 mit Levon Helm bei Proben in Woodstock. (Foto: Elliott Landy/Magnum Photos)

Robbie Robertson von "The Band" litt 50 Jahre unter dem Mix des Albums "Stage Fright". Jetzt hat er eine Art Director's Cut gemacht.

Von Joachim Hentschel

Es ist der Alptraum, der Schmerz, dessen Echo wohl allen Künstlern irgendwo in den Nieren steckt: Da gibt es diese Deadline, eine richtig heiße, bis zu der man das große, wichtige Werk fertig haben muss. Aber da steht auch ein Zug an Gleis 1, der Zug nach Irgendwo, der ebenfalls schon dampft, und den man auf keinen Fall verpassen darf. Die Zeit lässt sich nicht anhalten, obwohl es hier ausnahmsweise mal angebracht wäre. Eigentlich kann alles nur schiefgehen.

Robbie Robertson, Gitarrist, Songwriter, früher Hut und Brille tragender Rock-Visionär, erlebte das im Juni 1970. The Band war der unmissverständliche Name seiner daheim in Kanada gegründeten Country-Folk-Rock'n'Roll-Supergruppe, die als Bob Dylans wildeste Begleit- und Partnerband längst in die Geschichte eingegangen war. Die vierschrötige Truppe, die gewaltige Soulsongs schreiben konnte, die von Aretha Franklin über Frank Sinatra bis Juliane Werding ("Conny Kramer") gecovert wurden, und für die Martin Scorsese 1976 "The Last Waltz" drehte, einen der besten Rockkonzertfilme.

1970 jedenfalls hatten The Band gerade in einem Theatersaal in Woodstock die Aufnahmen für ihr drittes Album beendet. Das Abmischen, also die klangtechnische Grob- und Feinlackierung, die wichtige Schlusspartie der Produktion, in der man sogar ein Meisterwerk noch ohne Not ruinieren kann, stand allerdings noch aus.

Die Band musste aber den Festival Express erwischen. Einen 14 Sonderwagen langen Zug der Canadian National Railways, in dem sie mit Janis Joplin, den Grateful Dead und weiteren losen Gesellinnen und Gesellen auf eine ausgiebige, vorprogrammiert chaotische Kanada-Tournee gehen sollten. Robertson, der sich in verantwortlich fürs Klangergebnis fühlte, hatte keine Wahl. Er musste den Mixprozess in fremde Hände geben, ohne dabei den Toningenieuren im Nacken sitzen und mitreden zu können.

Wie ein Rock'n'Roll-Terminator aus der Zukunft, der den Job erledigt, den er damals andere machen ließ

"Seither habe ich 50 Jahre lang mit einer gewissen Unruhe gelebt", sagt Robertson heute, mit 77, von seinem Studio in Los Angeles aus, beim Gespräch über die Zoom-Leitung. "Mir fehlte bei diesem Album immer das Gefühl der Erfüllung. Jetzt habe ich es endlich."

"Stage Fright", das Album von The Band, um das es geht, ist gerade neu veröffentlicht worden, zum schrägen 51. Jubiläum. Es ist aber keines der routinierten "Remastered Edition"-Pakete, bei denen lediglich das generelle Klangbild überholt und neue Filter über die Musik gelegt werden, damit sie dem zeitgemäßen Stand von Hörgewohnheiten und Heimanlagen besser entspricht - und im Zweifel noch holzbalkiger aus den Boxen prügelt, um sich gegen die gnadenlose Dynamik neuerer Songs behaupten zu können.

Nein, Robertson hat sich, zusammen mit dem berühmten Produzenten Bob Clearmountain, die ursprünglichen Tonbänder von 1970 vorgenommen. Hat alle Instrumente und Stimmen separat poliert und gewienert, die Lautstärkeverhältnisse und Effekte frisch ausgelotet, alles neu zusammengepuzzelt. Dass er zudem noch die Reihenfolge der Stücke umgestellt hat, macht die 2021er-Ausgabe von "Stage Fright" zu einem Spezialfall. Es ist so, als wäre Robbie Robertson nach 1970 zurückgereist. Als hätte er, wie ein Rock'n'Roll-Terminator aus der Zukunft, rückwirkend den Job erledigt, den er wegen der Zugfahrt damals andere machen ließ.

2003 erschien das Beatles-Album "Let It Be" ohne den Effekt-Schlonz, den Phil Spector 1970 aufgepfropft hatte

Solche Komplett-Remixe waren im Musikbusiness lange Zeit eher verpönt. Während das Kino den nachgeschobenen "Director's Cut" als schlüssige Form akzeptierte, tastete man in den Studios nur ungern die Autorität der Original-Mixe an, die sich über Jahre ins Unterbewusstsein der Hörerschaft gefräst hatten. Nach und nach hat sich das im Lauf der vergangenen 20 Jahre gewandelt. Wohl auch, weil Wiederveröffentlichungen für die Plattenfirmen zum immer größeren Umsatzfaktor wuchsen.

So kam zum Beispiel 2003 das Beatles-Album "Let It Be" in einer völlig neu abgemischten Version heraus, für die der Effekt-Schlonz wieder entfernt worden war, den Produzent Phil Spector 1970 aufgepfropft hatte. Weitere Beatles-Aufnahmen gingen durch teils radikale, aber umso treffendere und werkdienlichere Bearbeitungen, während sich im Progressive-Rock-Genre der Musiker Steven Wilson zu einer Art Chef-Restaurator für ganze Reihen historischer Alben etablierte. Ozzy Osbourne gab der Remix-statt-Remaster-Idee einen bizarren Twist, als er die Beiträge von in Ungnade gefallenen Musikern aus alten Platten löschte und für folgende Auflagen von seinen aktuellen Lieblingen neu einspielen ließ.

"Er wollte Momente einfangen, während Leute wie ich eher Gestalter sind", sagte Robbie Robertson mal über Bob Dylan. Gestaltet hat Robertson sein ganzes Leben lang. (Foto: Don Dixon)

"Die früheren, gewohnten Versionen sind ja weiterhin problemlos erhältlich", wehrt Robbie Robertson, durchaus leicht genervt, den Einwand ab, man könne solche Generalüberholungen auch als Form von kultureller Geschichtsklitterung sehen. "Wenn Leute den alten Mix lieber wollen, sollen sie ihn meinetwegen weiterhin hören. Hier geht es darum, was ich will."

Ob Robertson hier nun wirklich die ursprüngliche Werkintention rekonstruiert hat oder ob er und Bob Clearmountain am Ende doch die Hörerwartung von 2021 bedienen, das ist selbst mit größtmöglicher Rittmeisterlichkeit nicht zu klären. Bleibt nur der Hörtest - und der ergibt zunächst, dass der Unterschied zwischen alter und neuer "Stage Fright"-Version bei üblicher Zimmerlautstärke oder mit Smartphone-Kopfhörern kaum zu bemerken ist. Erst wenn man intensiver zuhört, registriert man den Fortschritt. Beim Titelstück zum Beispiel, einem von Bassist Rick Danko gesungenen Salonrock-Schunkler, klingen Orgel und Klavier viel wärmer und differenzierter, das Schlagzeug weniger muffig. Das ganze Ensemble wirkt harmonischer ausbalanciert. Dass Robertsons Gitarre, die im Original-Mix dominant klirrte, nun tendenziell stärker im Gesamtklang versinkt, ist das beste Argument gegen jeden Verdacht, er habe bloß die eigenen Beiträge aufwerten wollen.

Man wird die neue Version von "Stage Fright" ab sofort lieber hören als die alte

Und wie unschlagbar sonnenuntergangsgolden die Harmoniegesänge der Band klangen, hört man im Appalachen-Soul "Daniel and the Sacred Harp" erst jetzt so richtig. Es sind Nuancen, keine kompletten Neuinterpretationen. Sie ändern nichts daran, dass "Stage Fright" im Vergleich zu den ersten zwei The-Band-Alben die widerspenstigere, fragmentarischere Platte bleibt.

Aber auch wenn man sich über die Motivationen der Remixer keine Illusionen machen sollte, die hier in erster Linie Plattenfirmen frische Produkte liefern, die wenig Produktionskosten verursachen und daher Top-Gewinnspannen bieten: Man wird die neue Version von "Stage Fright" ab sofort lieber hören als die alte. Weil sie schlicht besser zu transportieren scheint, wie die Musiker ihre Musik meinten. Das gilt nicht unbedingt für jedes Remix-Projekt.

"Bob Dylan legte im Studio viel weniger Wert auf den Klang", erzählt Robertson noch. "Er wollte Momente einfangen, während Leute wie ich eher Gestalter sind. Ich wollte immer, dass die Musikalität die passende Ausleuchtung bekommt, die richtigen Blickwinkel. Es ging mir nie darum, Dokumentationen zu drehen. Ich wollte Filme machen." Und der Rest der Welt kann "Stage Fright" jetzt endlich in Farbe hören.

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