Te-Ping Chen: "Ist es nicht schön hier?":Depressive Dissidenten

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Te-Ping Chen, 1985 in Berkeley, Kalifornien geboren, war Korrespondentin des Wall Street Journal in Peking und Hong Kong. (Foto: Benjamin Carlson)

Das Gefühl der Bedrohung ist allgegenwärtig: Die amerikanische Journalistin Te-Ping Chen erzählt in ihren Kurzgeschichten von Anpassung und Emanzipation im modernen China.

Von Nicolas Freund

Es ist unmöglich, das Private vom Politischen zu trennen. Versucht wird es trotzdem immer wieder, mit der Folge, dass ein eigenartiger Bereich entsteht, eine undefinierte Zone zwischen dem Politischen und dem Privaten, die gern nur das eine wäre, aber nie verleugnen kann, dass sie auch das andere ist, ein finsterer Ort des Selbstbetrugs. In diesem Zwischenreich spielen die Kurzgeschichten der amerikanischen Journalistin Te-Ping Chen.

In einer Geschichte geht es etwa um chinesische Zwillinge: Das Mädchen ist hochintelligent und freiheitsliebend, träumt vom Leben im Ausland und einem anderen China. Der Junge ist angepasst und brav, findet sein Glück in einem harmlosen Beruf und professionellem Computerspielen. Sie wird zur Dissidentin, die in sozialen Medien Missstände kritisiert, die dafür mehrmals ins Gefängnis geht und ihren Verlobten verliert. Er wird glücklich mit Computerspielen und er ist es, der schließlich ins Ausland reisen darf.

In einer anderen Geschichte trifft eine junge Frau, die in einem trostlosen Callcenter arbeitet, ihren Exfreund Keju wieder, einen cholerischen und unheimlichen Typ, der bei einem Brand in der Fabrik, in der er arbeitete, einen Arm verloren hat. Die Begegnung der beiden erzählt Te-Ping so: ",Na jedenfalls bin ich froh, dass ich dich gesehen habe', sagte er schließlich, als gäbe es eine bestimmte Anzahl von Sehenswürdigkeiten in der Stadt, und sie sei eine davon. ,Es ist einfach schön hier, findest du nicht?', lenkte sie ein. Er betrachtete die Szene hinter ihr: Es war ein freundlicher Anblick mit den herumrennenden Kindern, den vielen Rentnerinnen mit bunten Röcken und bestickten Oberteilen, die sich zum Tanzen aufstellten. An den Rändern standen schwarz uniformierte Sicherheitsbeamte; auf der anderen Seite des Platzes plauderten Polizisten mit Touristen, ein paar sprachen in Funkgeräte. ,Wenn ich ganz ehrlich bin, macht es mir Angst', sagte Keju."

Es sind die Dissidenten, die leiden müssen, die versehrt und nicht nur politisch unangepasst sind, die Probleme machen. Die Angepassten haben dagegen ein angenehmes, fast sorgenfreies Leben. Chens Geschichten sind aber nicht als Peking-treu lesbar, wie zum Beispiel manche Erzählungen Mo Yans. Wie dieser Platz, an dem Keju seine Exfreundin trifft, lassen sich die Personenverhältnisse in Chens Geschichten von zwei Perspektiven aus betrachten: der regierungstreuen und aus der regierungskritischen, fast wie ein Vexierbild. Beide Seiten können sehen, was sie sehen wollen.

Te-Ping Chen: Ist es nicht schön hier. Storys. Aus dem Englischen von Anke Carolin Burger. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 256 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Diese politische Ambiguität ist kein Selbstschutz und schon gar kein Kniefall vor Peking, das Stilmittel wird konsequent durchgehalten, selbst die Verhältnisse zwischen den Figuren schildert Chen schwebend und uneindeutig. In einer Geschichte heiratet ein junger, chinesischer Germanistik-Professor eine Ethnologie-Dozentin, beide leben in den Vereinigten Staaten, er hat in Deutschland studiert und ist schon als Teenager aus China praktisch geflohen. Er möchte nicht mehr zurück und erzählt wenig aus der Heimat. An einem Wintertag wird er erhängt im Park aufgefunden, ohne Erklärung oder Abschiedsbrief. Die Erzählerin weiß, dass er eine dunkle Geschichte mit sich herumtrug, aber doch nichts, das ihn in den Suizid getrieben hätte? War es überhaupt Suizid?

Chen ist in den USA geboren und aufgewachsen, in China arbeitete sie für amerikanische Zeitungen, heute lebt sie in Philadelphia. Ihr Großvater, das erzählte sie in einem Interview mit Pen America, war ein Intellektueller, der sich für ein demokratisches China einsetzte. Sein Grab wurde während der Kulturrevolution entweiht. Sie denke oft an ihn.

Das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung betrifft aber nicht nur Dissidenten und Regierungstreue: Das Politische sickert auch in anderen Verhältnissen in das Private ein, und wenn es unbemerkt bleibt, kann es wirken, wie ein Gift. Chen erzählt in sehr klarer Sprache, ohne Schnörkel und Effekte, was den Geschichten manchmal etwas Märchenhaftes gibt und schön kontrastiert mit dem Zynismus, der in vielen von ihnen schwelt. Ein mutiges und tiefes Debüt.

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