Tanzplattform Berlin:Anschlussfähig

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"Being pink ain't easy": Solo für Rudi Natterer als geschlechterfluider Prinz Lillifee in einer Choreografie von Joana Tischkau. (Foto: Dorothea Tuch)

Bei der Tanzplattform Berlin überzeugt eine junge Generation mit smarten, stilbewussten Choreografien. Aber auch von Sasha Waltz gibt es ein neues Stück: "Sym-Phonie MMXX".

Von Dorion Weickmann

Vor genau zwei Jahren endete in München die Tanzplattform 2020, und damit das letzte Festival der Prä-Corona-Zeit. Beim Abschied war klar, dass die nächste Ausgabe der biennalen Leistungsschau unter dem Dach des Berliner Theaters Hebbel am Ufer (HAU) stattfinden würde. Dagegen ahnte niemand, dass sämtliche Produktionsstätten für zeitgenössischen Tanz in monatelange Lockdowns hineinrauschen und wie alle anderen Kunstorte auch den Betrieb einstellen sollten. Von jetzt auf gleich saß die Tanzszene auf dem Trockenen und musste sich in Küchen, Kellern oder Korridoren ertüchtigen. Und HAU-Intendantin Annemie Vanackere mag sich mehr als einmal gefragt haben, wen bitteschön sie im März 2022 überhaupt nach Berlin einladen kann und soll. Am Ende schafften dreizehn per Juryvotum ermittelte Produktionen den Sprung auf die viertägige Tanzplattform, und nach der Marathonbesichtigung lässt sich sagen: Dem Gegenwartstanz (made in Germany) ist die Zwangspause gar nicht schlecht bekommen.

Vielleicht hat die Verlangsamung des Produktionsausstoßes zu intensiveren Arbeitsprozessen, mehr Muße, mehr Kreativität geführt. Jedenfalls erwiesen sich auffällig viele Arbeiten als allgemein anschlussfähig, weil sie den Tanz entweder in historische Linien oder aktuelle Debatten einklinkten.

Das Geschichtskapitel öffnete sich bereits einige Tage vor Plattform-Beginn dank einer Uraufführung, die mit zwei Jahren Verspätung herauskam. In der Berliner Staatsoper Unter den Linden hob die Choreografin Sasha Waltz "Sym-Phonie MMXX" aus der Taufe, zu einer Auftragskomposition von Georg Friedrich Haas. Die brandneue Musik verausgabt sich in vertrauten Klangschleifen, mäandert irgendwo zwischen den anschwellenden Sirenengesängen von Wagners "Rheingold" und Spiralstrudeln wie im "Vertigo"-Soundtrack. Derweil schickt die Choreografin ihre einundzwanzig Tänzer auf eine Retro-Reise Richtung Ausdruckstanz. Expressionismus, Emphase und chorische Sphären bestimmen das Bild, vom goldenen Bühnenprospekt im Hintergrund feierlich reflektiert. Waltz modelliert das Gegen- und Miteinander der menschlichen Spezies wie ein Fries, aber die weitaus stärkste Szene des Abends setzt sie in minutenlanges Orchesterschweigen hinein: zwei Tänzer, die wie Gevatter Tod übers Schlachtfeld schreiten und eine Figur nach der anderen fällen, eher zärtlich und sanft als gewalttätig. Der Rest ist schön anzuschauen, bisweilen jedoch allzu gefällig temperiert.

Claudia Roth fragt, ob man Tanz angesichts des Krieges noch "genießen" könne - als gehe es um ästhetischen Lukullismus

Gleicher Befund drei Tage später, als die neue Staatsministerin für Kultur und Medien im Deutschen Theater mit einer wackeren Rede die Tanzplattform eröffnete. Claudia Roth geißelte Putins Kriegstreiberei und gelobte großzügige Unterstützung für die Tanzkunst. Dann folgte die einigermaßen irritierende Frage, ob man angesichts des Waffengangs und der Flüchtlinge Tanz überhaupt noch "genießen" könne. Ästhetischer Lukullismus dieser Art ist eigentlich längst ebenso ausrangiert wie politische Blubberblasenrhetorik: Was zählt, sind kritisches Potenzial und Relevanz. Für beides gab es im Tanzplattform-Programm mehr als genug Aufhänger. Angefangen bei Moritz Ostruschnjaks hinreißenden "Tanzanweisungen", in denen der Solotänzer Daniel Conant binnen einer halben Stunde Moderne und Postmoderne von Nijinsky bis Anne Teresa De Keersmaeker durchquert, bis hin zum formidablen Hip-Hop-"Pack" aus Dresden punkteten die Junioren mit Einfallsreichtum und Eigensinn - ohne den Kunstanspruch zu unterlaufen.

Solo furioso: Daniel Conant in "Tanzanweisungen" von Moritz Ostruschnjak im Deutschen Theater Berlin. (Foto: Wilfried Hösel)

Zu den jüngsten und smartesten Beispielen gehörte Joana Tischkaus "Being pink ain't easy": Solo für einen m/w/d-Performer im rosa Fummel, der Macho-Manierismen zu einer famosen Prinz-Lillifee-Show verquirlt. Lisa Rykena und Carolin Jüngst lieferten mit "She legend" den robusten Gegenentwurf in Gestalt zweier Superfrauen, die, egal ob Martial Arts oder Säbeltanz, jede Attackenakrobatik beherrschen. Mit Stil- und Formstrenge beeindruckte Sheena McGrandles' "Flush", das drei sportive Grazien vor eine Pressspanplatte postiert, wo sie Bewegungsstudien in Eadweard-Muybridge-Manier deklinieren - was scharfkantige Silhouetten mit androgynem Charmefaktor erzeugt. Einen so wundersamen wie berührenden Pas de deux zeigten Renae Shadler und ihr Tanzpartner Roland Walter: "Skin" schwebt als Mixed-abled-Tanz zwischen Symbiose und Autonomie als Zusammenspiel zweier Körper, die über alle Unterschiede hinweg immer wieder eine Verstehens- und Verständigungsebene finden.

So sorgte die junge Generation bei der Tanzplattform für aufregende Überraschungen, indem sie ihre Kunst geschickt mit popkulturellen Phänomenen und Diversitätsaspekten kreuzte. Abgesehen von Ausfällen wie Choy Ka Fais fernöstlichem Schamanismus-Sightseeing oder Julian Webers verblasener Brancusi-Etüde in Badehose und Schwimmhaube überzeugte die Alterskohorte 25-plus mit starken Stücken und ließ selbst eine Performance-Großmeisterin wie Meg Stuart ziemlich alt aussehen. Stuarts in den Rundhorizont der Volksbühne hineingepflanztes Weltraum-Spektakel "Cascade" wirkte genauso nostalgisch wie seine ausgiebig zitierte Referenzgröße "Saturday Night Fever", 1978 auf den bundesdeutschen Leinwänden gestartet. Statt John Travolta kann Stuart halt nur gediegenes Tanzmittelmaß aufbieten. Bleibt Zeit, nachzubessern bis zur nächsten Tanzplattform-Runde: 2024 in Freiburg.

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