Am notorischsten unter den offenen Fragen ist die Kontinuumshypothese, aufgestellt 1878 von Georg Cantor, im Jahr 1900 auf Platz 1 der Liste der 23 wichtigsten offenen mathematischen Fragen gesetzt und bis heute ungelöst. Cantor hatte bewiesen, dass es unterschiedlich große unendliche Mengen gibt, oder genauer: dass die Menge der reellen Zahlen überabzählbar, ihre Mächtigkeit also größer als die der natürlichen Zahlen ist. Seine Kontinuumshypothese von 1878 drückt vor diesem Hintergrund die Vermutung aus, dass es keine unendlichen Mengen gibt, die größer als die Menge der natürlichen Zahlen, aber kleiner als die Menge der reellen Zahlen sind.
Einige Mathematiker glauben, dass die Kontinuumshypothese einen definitiven Wahrheitswert hat, dass sie also entweder wahr oder falsch ist. Hugh Woodin zum Beispiel, Professor der Mathematik und der Philosophie an der Harvard University, ist von der Wahrheit der Kontinuumshypothese überzeugt.
Seit 2010 arbeitet er an der Konstruktion eines inneren Modells des mengentheoretischen Universums, die - wenn sie gelänge - eine mathematische Sensation wäre. Nicht nur, weil sie die Wahrheit der Kontinuumshypothese bestätigen würde, sondern auch, weil sie ein ordentliches, elegantes und überschaubares Bild der unendlichen Hierarchie von Mengen zeichnen und somit unser Verständnis der inneren Struktur von Unendlichkeit revolutionieren würde.
Jedoch befürworten nicht alle Mathematiker diese Herangehensweise. Mengentheoretiker wie zum Beispiel Stevo Todorčević von der University of Toronto sind davon überzeugt, dass die Kontinuumshypothese falsch ist. Sie bevorzugen die Forcing-Methode, eine mathematische Technik, mit der unendlich viele mengentheoretische Universen definiert werden können, um offene Fragen in ihnen zu beantworten. Mit dieser Technik lässt sich zwar zeigen, dass Cantors Kontinuumshypothese falsch ist. Aus philosophischer Perspektive hat diese Forcing-Methode allerdings rein pragmatischen Wert, fördert sie doch nicht unser Verständnis der inneren Struktur von Unendlichkeit.
Entgegen der weitverbreiteten Meinung, in der Mathematik gäbe es auf jede Frage genau eine richtige Antwort und somit keinen Platz für Dissens, herrscht also de facto Uneinigkeit nicht nur über die beste Beweistechnik für mengentheoretische Vermutungen und deren Wahrheitswerte, sondern auch darüber, wie wir einige der grundlegendsten mathematischen Begriffe (wie zum Beispiel "Menge" oder "Unendlichkeit") überhaupt verstehen sollten. Manche Mathematiker fühlen sich gar an "religiöse" oder "schismatische" Kontroversen erinnert.
Im Gegensatz zur Religion (oder auch der Politik) begegnet die Mathematik den ihr immanenten Uneinigkeiten allerdings sehr gelassen. Kein Mengentheoretiker würde in Hysterie oder wüste Beschimpfungen verfallen, nur weil ein Kollege das komplette Gegenteil dessen verteidigt, was er selbst glaubt. Und das, obwohl es um die fundamentalsten Wahrheiten der vielleicht fundamentalsten Wissenschaft geht. Im Gegenteil, die mathematische Avantgarde argumentiert derzeit sogar dafür, das Ideal eines einheitlichen, widerspruchsfreien Gesamtbilds endlich aufzugeben und sich der Tatsache des in der Grundlagenmathematik bereits praktizierten mathematischen Pluralismus zu stellen.
Vorreiter dieses Ansatzes ist der Mengentheoretiker Joel Hamkins, Professor der Logik an der Fakultät für Philosophie der University of Oxford. Er plädiert dafür, die Jagd nach dem einen richtigen Axiomensystem aufzugeben, mit dessen Hilfe die Mathematik alle offenen Fragen endgültig und eindeutig beantworten könnte. Stattdessen ruft er dazu auf, die Tatsache zu akzeptieren, dass die Mathematik kein Universum, sondern ein Multiversum ist, bestehend aus unendlich vielen, teilweise sehr unterschiedlichen Subuniversen, und dass die Entscheidung, mit welchem dieser Subuniversen sich ein individueller Mathematiker befassen sollte, unter rein pragmatischen Gesichtspunkten getroffen wird. Zwar impliziert diese Herangehensweise eine drastisch veränderte Sichtweise auf das, was wir "mathematische Realität" nennen. Im Ausgleich dazu trägt sie allerdings einem de facto bereits bestehenden Zustand Rechnung.
Wenn selbst die Mathematik, das Paradies der Exakt- und Gewissheit, solche Uneinigkeiten aushält, könnten wir dann nicht auch in Diskursen, die sich mit weit weniger präziser Materie befassen, eine mindestens ebenso große Gelassenheit an den Tag legen? Die Pluralismusdebatte in der Grundlagenmathematik zeigt, wie wichtig es ist, Spannungen auch über lange Zeiträume aushalten zu können. Im Extremfall kann es Jahrhunderte dauern, bis die richtige Antwort auf eine schwierige Frage gefunden ist. Und manchmal entsteht die richtige Antwort auch gar nicht aus theoretischen Überlegungen, sondern aus dem, was sich praktisch bewährt. Vielleicht geht man unlösbar scheinende Fragen, auch wenn sie die fundamentalsten Aspekte des menschlichen Daseins berühren, also am besten pragmatisch und nicht dogmatisch an.
Die Autorin ist Philosophin und Fellow am Munich Center for Mathematical Philosophy der LMU.