Streit:Poesie der Reue

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Ein Dichter hat ein Gedicht in "The Nation" veröffentlicht, für das sich er und die Redaktion inzwischen entschuldigt haben. Nicht alle sind damit glücklich.

Von Marie Schmidt

Gedichte können erbitterten politischen Streit entfachen, die Deutschen wissen das spätestens seit Eugen Gomringers "Avenidas". Und auch in den USA stehen sich jetzt die Parteien eines Lyrik-Kampfes verständnislos gegenüber. Der Dichter Anders Carlson-Wee hatte ein Gedicht im Magazin The Nation veröffentlicht, für das sich dessen Redaktion und Carlson-Wee selbst inzwischen in bewegenden Worten entschuldigt haben. Es heißt "How to" und ist aus der Perspektive einer Bettlerin geschrieben, die erklärt, wie man an das Gewissen der Passanten appelliert: "Sag nicht obdachlos, sie wissen, dass du es bist. Was sie nicht wissen ist, was sie ihre Geldbeutel öffnen und nicht zählen lässt, was sie dir hinwerfen". Auf Englisch erkennt man an diesen Zeilen auch, dass die Bettlerin schwarz sein muss. Dass etwa in dem Vers "Don't say homeless, they know you is" das Verb "sein" nicht flektiert ist, gehört zu den Merkmalen des afroamerikanischen Englisch. Diesen Dialekt hätte Carlson-Wee nun nach Meinung seiner Kritiker nicht benutzen dürfen, weil er nicht nur bis dato sehr unbekannt und jung, sondern auch sehr weiß ist. Es hat sich also - so der Vorwurf der "kulturellen Aneignung" - der Angehörige einer privilegierten Gesellschaftsschicht der Erkennungszeichen der minder Privilegierten bedient, um sein Kunstwerk zu plausibilisieren.

Carlson-Wee entschuldigte sich, nachdem er von Dichterkollegen und Betroffenenverbänden angegriffen worden war, mit einem Statement auf Twitter, das fast einen eigenen literarischen Wert hat, eine Poesie der Reue. Dass allerdings auch die Redakteure von The Nation sich öffentlich von dem Gedicht distanzierten, hat Kritiker der Kritiker auf den Plan gerufen.

Grace Schulman, die 35 Jahre lang und bis 2006 Literaturredakteurin des Magazins war, schrieb in der New York Times, man habe da eine gute Tradition aufgegeben. Früher habe man nie einen veröffentlichten Text in Zweifel gezogen, sondern sich Auseinandersetzungen gestellt.

Andererseits gehören zu Konflikten, in denen heute Macht und Ohnmacht ganzer Identitätsgruppen in Rechnung gestellt werden, Entschuldigungen womöglich unbedingt dazu. Die Souveränität, mit der Carlson-Wee "sorry" sagte, könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Übung der Reue ihren Status gewechselt hat. Sie wirkt jetzt nicht mehr wie eine Art, sich in den Staub zu werfen, sondern wie eine Art, sich aufrecht zu stellen.

© SZ vom 09.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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