Spurensuche:Schwester, geh nicht fort

Lesezeit: 1 min

Erinnerung ist nicht objektiv. Forscher versuchen dennoch, sie zu systematisieren und vermeintlich zu verbessern. Munch hätte das nicht gefallen.

Von Kia Vahland

Edvard Munch: "Das kranke Kind" in der vierten Fassung von 1907, heute in der Tate London. (Foto: Wikipedia/flickr)

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Edvard Munch nahm sich die Freiheit zu erinnern, wie er wollte.

In einem EU-finanzierten Forschungsprojekt namens Recall erkunden Forscher, wie sich persönliche Erinnerungen durch Bilder manipulieren lassen ( SZ vom 5. September). Das kennt jeder, der sich bestimmte Situationen der frühen Kindheit ins Gedächtnis ruft - und sie in Wahrheit nur aus den Fotoalben kennt, die er mit den Eltern immer durchgeblättert hat. Doch nun gehen Wissenschaftler weiter, sie fotografieren den ganzen Alltag mit Kameras, die den Versuchspersonen um den Hals hängen. Und zeigen ihnen hinterher nur das vermeintlich Wichtige, Schöne, Gute, auf dass es verinnerlicht werde. Ähnlich macht das Facebook und präsentiert seinen Mitgliedern ihre besten Online-Lebensmomente.

Vielleicht muss man heute das Recht auf Erinnerung und Vergessen verteidigen, gehört beides doch zum Kern der Persönlichkeit. Wer erinnert, der malt seine Geschichte selbst. Wer vergisst, grenzt sich ab und verabschiedet Unwichtiges. Manch einer hat schon schlechten Erlebnissen etwas Individuelles abgewonnen, weil er sie auf seine ganz persönliche Art durchdenkt und so im Nachhinein in das eigene Leben integriert.

Edvard Munchs "Das kranke Kind" in seiner ersten Fassung von 1985/86 hängt in der Norwegischen Nationalgalerie in Oslo. (Foto: Børre Høstland)

So jemand war Edvard Munch. Er gehört zu den Avantgardisten, deren Bezugsgröße nicht mehr eine vermeintlich objektive Realität war, sondern das eigene Erleben. "Du sollst Dein eigenes Leben schreiben", forderte 1889 der norwegische Schriftsteller Hans Jaeger. Der Maler entsprach dem mit Pinsel und Farben. Kurz zuvor hat er das erste Mal "Das kranke Kind" gemalt. Eine Frau beugt sich über ein bleiches Mädchen im Bett und scheint dessen Hand zu greifen. Der Farbauftrag ist grob und pastos, der Maler hat ihn solange zerkratzt, bis das Gemälde mit seinem Grauschleier wie ein Traumbild wirkt. Immer wieder wird er dieses Motiv malen, immer expressiver, farbiger und plastischer sehen die Fassungen aus (die obere Abbildung zeigt die vierte von fünf Versionen).

Munch hatte als Fünfjähriger seine Mutter an die Tuberkulose verloren und acht Jahre später seine Schwester. Dieses Unglück, sagte er, war "für meine Kunst bestimmend". "Das kranke Kind" ist seine selbst, nicht fremd gestaltete Erinnerung. Das sitzende Mädchen wurde Teil seines Lebens, das erst durch diese Bilder erträglich wurde.

© SZ vom 09.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: