Spurensuche:Literatur zweiter Stufe

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Rudyard Kiplings Gedicht "If-" in Manchester, bevor es übermalt wurde. (Foto: Sara Khan/ University of Manchester)

Wir suchen in Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Mit dem Übermalen eines Gedichts haben Studenten ein Palimpsest geschaffen.

Von Nicolas Freund

Die Welt verändert sich, nicht aber die großen Fragen. Wir suchen in Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Mit dem Übermalen eines Gedichts haben englische Studenten ein Palimpsest geschaffen.

An der Universität Manchester hat in dieser Woche ein Gedicht für mehr Aufmerksamkeit gesorgt, als es sonst außerhalb der literaturwissenschaftlichen Seminare üblich ist. In den frisch renovierten Räumen der Student's Union prangte an der Wand plötzlich das Gedicht "If-" des britischen Nobelpreisträgers Rudyard Kipling, Autor unter anderem des beliebten "Dschungelbuchs". Das Gedicht ist eigentlich ein Klassiker der britischen Lyrik und sollte wohl die Studenten spielerisch an den nationalen Bildungskanon gewöhnen. Nur, die dachten gar nicht daran, sich so erziehen zu lassen. Denn obwohl "If-" ein unverdächtiger Text ist, gelten viele andere Gedichte und Romane Kiplings als imperialistisch, kolonialistisch und in Teilen rassistisch.

Die Studenten wollten einen solchen Autor nicht an den Wänden ihrer Union stehen haben und übermalten das ungeliebte Gedicht kurzerhand. Auf die neu gewonnene freie Fläche pinselten sie stattdessen das Gedicht "I Rise" der amerikanischen Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou. Kiplings Gedicht scheint aber noch durch die neue Farbschicht hindurch: Die Texte des weißen Kolonialisten und der schwarzen Bürgerrechtlerin überlagern einander nun.

Philologen sprechen bei einer solchen Textschichtung von einem Palimpsest, was aus dem Altgriechischen kommt und "wieder abgeschabt" bedeutet. Schreibmaterialien waren bis ins Mittelalter ein wertvolles Gut und oft wurden Texte von Papyrus und Pergament wieder abgekratzt, um Platz für Neues zu machen. Manchmal scheint der ursprüngliche Text aber noch durch oder lässt sich mit chemischen und fotografischen Methoden wieder sichtbar machen.

Man kann den Begriff aber auch anders verstehen. Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette verwendete das Palimpsest als Metapher für die vielfältigen Beziehungen von Texten durch Zitate, Verweise und andere Verbindungen. Besonders die englische Lyrik der Moderne von Autoren wie T. S. Eliot oder Ezra Pound, die zwischen Kipling und Angelou entstand, zeichnet sich durch ihren fast collagenartigen Umgang mit Zitaten und Anspielungen aus.

Die Studenten haben mit ihrem Palimpsest zwei Gedichte zusammengeführt, die jeweils Selbstbewusstsein angesichts einer großen Herausforderung beschwören - wenn auch unter völlig verschiedenen biografischen Vorzeichen. In der Gegenüberstellung können sie ganz neu gelesen werden.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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