Spurensuche:Felsenfest

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Wer zu viel Angst hat, verpasst das Wesentliche - das sieht man schon bei Caspar David Friedrich, der das Sehen an sich feierte.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Vor Zukunftsängsten warnte schon Caspar David Friedrich.

Nach der Wiedervereinigung gab es diesen kurzen Moment, in dem es schien, als seien mit dem Kalten Krieg auch die Zukunftsängste überwunden: die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg, vor dem Waldsterben, vor vielem. Doch längst sind die Ängste wieder da. Sie gelten, je nach politischer Prägung, der Einwanderung, dem Klimawandel, dem Islamismus, den Renten. Die eine Furcht mag berechtigter sein als die andere, doch: Lähmen tun sie alle.

Caspar David Friedrich verdichtete um 1818 den Gegensatz von Angststarre und gelassenem Blick in die Zukunft in seinen "Kreidefelsen auf Rügen". Ein Bürger nähert sich kriechend dem Abgrund, seinen Zylinder hat er sicherheitshalber abgelegt. Neben ihm weist eine Frau nach unten. Beide bleiben gefangen in der Vorstellung, was alles Schlimmes geschehen könnte. Und verpassen so den wundervollen Meerblick, der sich nur dem aufrecht stehenden jungen Mann rechts bietet. Er lehnt an einen Baum, stützt die Füße auf ein paar über das Nichts hinauswachsende Äste - und nimmt den Horizont in Augenschein mit allem, was da kommt.

Seine Mütze weist ihn als Nationalliberalen aus, doch das Gemälde erschöpft sich nicht in der simplen politischer Symbolik: Die Fortschrittlichen schauen weiter als die Altbürgerlichen. Es ist, wie der Kunsthistoriker Johannes Grave herausgearbeitet hat, das Sehen selbst, das der Maler hier feiert. Er rahmt, wie es vor Ort realiter nicht der Fall ist, beide Seiten des Meerblicks mit hellen weißen Felsen ein, gleicht also den Moment in der Natur einem Gemälde an. Er ist die Gabe der Wahrnehmung, die den jungen Mann auszeichnet, seine Genussfähigkeit.

Gerne wären wir wie er, auch das kalkuliert Friedrich ein. Doch wie meistens in seiner Malerei geht unser Wunsch nicht auf: Die Rückenfigur steht weiter vorne am Rand als der Betrachter, sie sieht einfach mehr. Unser Glück mag das sein: Ein Freund, dem der Maler einmal auf Rügen die Stelle zeigte, stürzte fast ab und musste gerettet werden.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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