Spielzeiteröffnung in Frankfurt:Warten auf ein Wunderchen

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Aktionismus mit Hasenohren: Marta Kizyma in "Crave/Gier". (Foto: Robert Schittko)

Inszenierungen von Sarah Kanes "Gier" und "Stimmen der Stadt" mit Texten von Martin Mosebach und Lars Brandt geben sich Mühe. Ein Abend nach Zsuzsa Bank aber rettet alles.

Von Christiane Lutz

Ein Sehnen, ein Lechzen, ein großes Verlangen. Weg vom Istzustand hin zu etwas Erfüllenderem. All das steckt im englischen Wort "Crave", das oft mit "Gier" übersetzt wird, wie etwa beim gleichnamigen Stück von Sarah Kane. Ein Begriff, dem - im Gegensatz zur Sehnsucht - auch der anrüchige der Ruf des Nicht-genug-kriegen-Könnens anhaftet.

Beide Nuancen aber beschreiben ganz gut den Zustand, in dem sich das Theater und seine Zuschauer in den Immer-Noch-Corona-Zeiten befinden. Einerseits herrscht die fast romantische Sehnsucht nach einem Früher, als man noch unbesorgt den Nebenmann anpusten durfte. Andererseits hat das Zurückdrängen auf die Bühnen auch etwas Angestrengtes, Trotziges, für alle sehr Mühsames. Hauptsache weg vom Istzustand. Man könnte meinen, die Gier nach Relevanz, nach Spiel und Publikum setze in Künstlerinnen und Künstlern entsprechend explosive Kräfte frei. Am Schauspiel Frankfurt allerdings ist wenig zu spüren von Dringlichkeit oder Sehnsucht. Robert Borgmann inszeniert zur Spielzeiteröffnung eben jene "Gier". Am Tag darauf sind in den Kammerspielen drei Monologe "Stimmen einer Stadt" zu sehen, die siebte bis neunte Folge einer Serie von Frankfurter Autorinnen und Autoren, inszeniert zweimal von Intendant Anselm Weber, einmal von Kornelius Eich. Wobei nur ein Monolog daran erinnert, warum Theater doch nicht verzichtbar ist, selbst unter Corona-Auflagen.

Bei Borgmanns "Crave" sitzen die Zuschauer im Bockenheimer Depot an den Seiten eines langen Stegs, an dessen Enden je eine Leinwand aufragt. Auf dem Steg ein riesiger Baumstumpf, ein Auto mit kaputtem Anlasser, ein Bett auf einem Sockel - Metaphern für Unvollständigkeit, Gebrochenheit, Lebensmüdigkeit.

Borgmann arbeitet gern mit starken, auch rätselhaften Bildern, um die man mit etwas Ruhe gern herum gehen würde, um sie zu entschlüsseln. In seine Inszenierung von "Schwarzwasser" am Wiener Akademietheater, Elfriede Jelineks Stück zur Ibiza-Affäre, ließ er die Schauspieler etwa Diego Velázquez' Gemälde "Las Meninas" nachstellen.

So ist wohl auch die Idee entstanden, Sarah Kanes "Gier" als eine Art performative Installation zu inszenieren, die der Zuschauer ausgiebig betrachten kann. Der Fehler aber liegt in der Annahme, dass man Bilder schaffen könnte, die einem Text wie "Gier" ebenbürtig sind oder auch nur für ihn stehen könnten. Ein Text, der sich anfühlt, wie mit der Zunge über eine Rasierklinge zu gleiten und anschließend die blutende Wunde zu betrauern. Ein Text, der schon die Waffe ist, mit der die Regie mutig und sensibel umgehen muss.

Statt sich aber auf den Text zu verlassen, verlässt er sich auf seine durchaus starken Bilder. Der Text ist Beiwerk. Zuerst kommt das komplette Stück einmal auf Englisch vom Band, heruntergerattert, danach wiederholen ihn die vier Schauspieler Marta Kizyma, Laura Sundermann, Heiko Raulin und Samuel Simon. Sie sampeln ihn, wiederholen ihn auf englisch und deutsch (Übersetzung: Marius von Mayenburg). Sie prüfen Kanes Worte, die von Verzweiflung und Missbrauch berichten und in denen immer der Tod mitschwingt: "Es gibt Schlimmeres als fett sein und fünfzig. Tot sein und dreißig." Dabei klettern sie über das Wurzelwerk, springen über das Auto, wälzen sich im Bett, Kizyma balanciert über ein Drahtseil, alles begleitet von einem frickeligen Musikteppich der Live-Musiker Tom Müller und Philipp.

Sarah Kane verließ Theater regelmäßig vorzeitig, schrieb sie, aber nie ein Fußballspiel

Die Spieler wechseln in grelle Kostüme und heben am Ende dieses Abgesangs auf das Leben sogar ein Grab aus, in das sich nur eine Spielerin zu stürzen wagt, immer mit Kanes Worten im Mund. Worte, die sie sich nie zu Eigen machen. Der Text bleibt ferner Betrachtungsgegenstand, nicht berührend, erschreckend wenig erschreckend, sondern egal. Genauso wie die Dauer der zweistündigen Performance egal ist, man könnte auch nach einer Stunde gehen oder nach vier.

Welche ironische Steilvorlage, dass Sarah Kane im Programmheft ausgerechnet mit der Formulierung zitiert wird, sie verlasse das Theater regelmäßig vorzeitig, "ohne Furcht, etwas zu verpassen" - sich das bei einem Fußballspiel aber nie trauen würde, "weil man niemals weiß, ob nicht doch ein Wunder geschehen wird."

Am anderen Abend dann, bei der Monologreihe "Stimmen einer Stadt", geht es mühsam weiter. Anselm Weber inszeniert "Das Leben ist eine Kunst" von Martin Mosebach und "Die Gräten" von Lars Brandt. Brandts Text erzählt von einem frustrierten Stadtrat (Bijan Zamani), Mosebachs Text von einer frustrierten älteren Dame (Anke Sevenich). Weber inszeniert pragmatisch naturalistisch und verzichtet darauf, eine Haltung zu den Figuren zu entwickeln. Den Schauspielern bleiben nur ein paar traurige Requisiten, an denen entlang sie sich durch den Text hangeln.

Anders dann mit dem letzten großartigen Text "Alles ist groß" von Zsuzsa Bánk. Ein Grabmacher erzählt von seiner Arbeit auf dem Frankfurter Friedhof Heiligenstock. Regisseur Kornelius Eich und Schauspieler Nils Kreutinger schaffen in einer Stunde eine herrlich glamourös-neurotische Dandy-Figur, mehr geleckter Johnny Cash, denn morbider Totengräber. In "Grabmacher" steckt schließlich das Wort "machen", dieser Typ ist ein Macher, ein Geschäftsmann. Aber einer mit Herz, der sich gebraucht fühlt und den Duft von feuchter Erde eines frisch ausgehobenen Grabes liebt. Die schmalzige Tracy-Chapman-Ballade "Baby can I hold you" am Ende hätte sich der Regisseur sparen können, aber immerhin ist es da dann doch, das Wunderchen kurz vor Abpfiff, für das es sich zu bleiben lohnt.

© SZ vom 18.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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