Sommerserie: Am Wasser:Horizont in Flammen

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Ludwig I. schickte den Maler Carl Rottmann nach Griechenland, um dort die großen Geschichtsorte zu porträtieren. Neben einem von diesen ereignete sich nun die fatale Brandkatastrophe.

Von Alex Rühle

Montag, 23.7., nachmittags um drei. Gerade in Marathon angekommen. Eigentlich ist der Plan nur, ans Meer runterzulaufen, um zu schauen, ob man rausbekommt, von wo aus Carl Rottmann damals gezeichnet hat. Der eine Kilometer zum Strand führt an ein- und zweigeschossigen Häusern vorbei, die sich hier in das fruchtbare Tal ducken, als versteckten sie sich vor der Polizei, was nicht sonderlich verwundert, viele der Häuser entlang dieser Ferienküste sind Schwarzbauten. So wird es am nächsten Tag drüben in Mati, inmitten von Schutt und Asche, Maximos Sapranidis sagen: "Das meiste, was jetzt weg ist, wurde ohne Genehmigung gebaut." Aber jetzt steht ja noch alles, und es ist strahlend schön. Wobei genau das eines der Probleme ist.

Marathon. Fenchelfeld. Was für ein wohlduftender Name für ein Tal, das an diesem glühend heißen Dienstag wirkt, als würde die Sonne es platthämmern. Wenn die Häuser einfach in den flirrenden Asphalt wegschmelzen würden, dürfte es keinen wundern, der Straßenbelag, die Holzbänke, die Laternenpfosten, alles ist von wochenlanger Saharahitze aufgeladen. Nur der Wind weht silbriges Flimmern in die Olivenbäume, was heißt da Wind, ein starker Sturm bläst von Osten her. Das ist eigentlich das Einzige, was zu Rottmanns Gemälde passt, da fegt ja von rechts eine enorme Gewitterfront über die menschenleere Ebene.

Der Strandboulevard. Ein paar Schwimmer sind vor der Hitze ins Wasser geflohen. Leere Restaurants. Wenn man die Uferstraße auf- und abgeht, merkt man schnell, dass es Rottmann nicht darum gegangen sein kann, diese Bucht wahrheitsgetreu abzubilden. Die Berge sind bei ihm größer als in Wirklichkeit, die Bucht länger. Er schrieb seiner Frau, man müsse eben nachhelfen, all die Orte, die er hier entlang einer Liste abarbeite, die ihm sein König mitgegeben habe, seien von sich aus einfach nicht malerisch genug.

Sein König, das war Ludwig I., ein glühender Philhellene, nur deshalb ist München heute so schön. Er ließ seinen Haus- und Hofarchitekten Leo von Klenze eine Art Fantasiegriechenland bauen, Glyptothek, Siegestor, Ruhmeshalle. Und als sein zweiter Sohn Otto dann nach dem Befreiungskrieg gegen die Türken erster Griechenkönig wurde, schickte Ludwig den Landschaftsmaler Rottmann mit einer Sehnsuchtsliste hier runter, Theben, Athen, Olympia, Sparta, Salamis, alle auratischen Ortsnamen. Rottmanns Bilder sollten zum einen das Pathos der Antike atmen. Zum anderen sollten sie den bayerischen Untertanen zeigen, wie runtergekommen und kaputt dieses Land nach vierhundert Jahren osmanischer Fremdherrschaft war. Die Bayern sollten diese Bilder sehen und denken, ah klar, jetzt verstehen wir, warum unser ganzes Geld plötzlich nach Athen fließt.

Marathon stand natürlich auf Ludwigs Liste. Schließlich hatte in dieser Ebene das zahlenmäßig hoffnungslos unterlegene Athen 490 vor Christus ganz alleine die persische Streitmacht zurückgedrängt, die hier mit 25 000 Mann angelandet war. Der athenische Heerführer Miltiades hatte noch einen Boten namens Philippides nach Sparta geschickt, mit der Bitte um militärische Unterstützung. Zwischen Athen und Sparta liegen 245 Kilometer, der Bote soll die Strecke in zwei Tagen zurückgelegt haben. Die Spartaner zuckten mit den Schultern, tut ihnen leid, sie könnten erst nach dem Ende des Karnäischen Festes, am Vollmond des 19. September, in den Krieg ziehen. Nach vier Tagen und 450 Kilometern ist Philippides zurück in Athen. So ist es nachzulesen bei Herodot. Von Zusammenbruch und Tod kein Wort.

560 Jahre nach Herodot meint der Historiker Plutarch, diese Geschichte mit human touch anreichern zu müssen. "Verleumde nur dreist, etwas bleibt immer hängen", schrieb er selbst mal. Der Satz hat sich für Philippides auf grausame Art bewahrheitet. Niemand spricht heute mehr davon, dass dieser Athener zu den "Hemerodromoi" gehörte, den Tagesläufern, Sendboten, die zwischen den Stadtstaaten extreme Distanzen ohne Unterbrechung liefen. Plutarch lässt Herodots Boten nicht nur eine andere, viel kürzere Strecke rennen, er bringt ihn auch noch um: In seiner Version läuft er nach der gewonnenen Schlacht nach Athen, ruft "Freut euch! Wir haben gewonnen" und bricht tot zusammen. Nach gerade mal 40 Kilometern.

Rauchfahne über Mati, 23. Juli 2018. (Foto: Alex Rühle)

Rottmann hat vor Ort Skizzen angefertigt. Meist suchte er sich einen Hügel aus, von dem aus er feldherrenartig die Landschaft für sich eroberte, das heißt völlig nach seinem malerischen Gutdünken umgestaltete: Er verschob Baumgruppen wie Kulissen, machte Berge größer, als sie in Wahrheit sind, oder zog auch mal, wie im vorliegenden Fall, eine Bucht einfach ein paar Kilometer weiter in den Bildhintergrund, wenn's denn der Komposition diente. Zurück in München hat er dann die eigentlichen Gemälde angefertigt und noch mal kräftig nachgeholfen: Auf seiner Marathon-Skizze ist von Wind und schwarzen Wolken nichts zu sehen, es herrscht freundliches Mittagslicht über menschenleerer Ebene. Auf dem fertigen Gemälde quillt dann aber von Osten her eine bedrohlich schwarze Wolke in die Szenerie hinein.

Und das wirklich Unheimliche ist, dass während der Suche nach dem richtigen Standort plötzlich von rechts dieser Qualm ins Fotomotiv weht. Erst nur wölkchenweise. Aber schon nach wenigen Minuten brennen drüben, auf der anderen Seite der malerischen Bucht, alle Hügel. Über dem zu Marathon gehörenden Mati und dem Nachbarort Rafina stehen die Hänge in Flammen. Selbst aus sechs Kilometern Entfernung ist zu sehen, welche immense Kraft dieses Feuer innerhalb kürzester Zeit entwickelt, der Himmel ist bald so schwarz, als sei eine Ölraffinerie explodiert. Und aus dem Qualm steigen immer wieder Stichflammen auf - parkende Autos, aber auch Pinien, die nach Wochen der extremen Hitze und Trockenheit zu 30-Meter-Fackeln werden.

Hier am Strand stehen bald Trauben von Menschen, die jetzt nur noch hoffen, dass der Brand sich schon nicht nach Mati reinfressen wird. Zwischen den Flammen und den Häusern liegt schließlich die vierspurige Marathon-Avenue, die im Gedenken an die historische Schlacht und den erfundenen Lauf breit durch die Hügel schneidet. Sie merken, dass es schlimm sein muss, als sie niemanden erreichen. Auch der Bürgermeister von Marathon geht nicht ran, der ja zuständig ist für Mati. Er wird im Nachhinein sagen, er habe im Stau auf dem Marathonos Boulevard gestanden und vom Auto aus per Telefon die Löscharbeiten koordiniert. Die Feuerwehr aber wird darüber lachen und sagen, die Gemeinde von Marathon habe nicht mal für Löschwasser in den unterirdischen Tanks gesorgt. Als rauskommt, dass es keinen Evakuierungsplan für die Gemeinde gab, sagt der Bürgermeister, er sei nicht dafür zuständig.

Für unsere Sommerserie besuchen wir Strände und Ufer in der Kunst und der Wirklichkeit (Foto: SZ)

Das ist ein Ausschnitt aus einer lächerlichen Lokalposse, sie steht nur leider pars pro toto für die irrsinnige Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit, mit der hier Politik betrieben wird - und aufgrund derer dieses Feuer so katastrophale Ausmaße annehmen kann, dass bald der ganze Horizont in Flammen steht.

Es fehlt an diesem Nachmittag an allem. An Feuerwehrautos. An Löschflugzeugen. An Rettungsmannschaften. Das lässt sich noch erklären: Kurz vor dem Feuer, das Mati und Rafina zerstören sollte, war auf der anderen Seite von Athen, in Kameni, ebenfalls ein Großbrand ausgebrochen.

Es kam vieles zusammen: Hitze, Verantwortungslosigkeit, kein Wasser und Schwarzbauten

Was sich nicht erklären lässt: Warum es keine Evakuierungspläne gab. Und kein Verantwortungsgefühl: Seinerzeit siegte das griechische Heer hier gegen eine persische Übermacht und sicherte den Athener Bürgern so die Freiheit. Heute gibt es in Mati eine riesige Kaserne. Die liegt mitten im Brandgebiet. Sie blieb nahezu unversehrt. Die Soldaten, so erzählt es am Tag danach der Programmierer Maximos Sapranidis, während er verkohlte Reste aus seinem abgebrannten Elternhaus trägt, hätten ihre beiden Löschfahrzeuge und alle Soldaten in der Kaserne behalten. Als ein BBC-Reporter den Verteidigungsminister Panos Kammenos auf diesen Skandal ansprach, sagte der schulterzuckend, die Armee müsse sich leider ans Nato-Protokoll halten. Absurder kann man Verantwortung kaum abwälzen. Außerdem, so Panos Kammenos weiter, seien die Leute selber schuld, wenn sie alle ihre Häuser schwarz in Pinienwälder bauen würden. Es ist zwar zynisch, dieses Argument für das eigene Versagen herzunehmen, in der Sache aber hat er recht. Sapranidis erzählt, wie die Flammen am Vortag von Pinienhain zu Pinienhain sprangen: "Alle bauen hier Häuser in die Wälder und kümmern sich aber nicht um den Raum, den wir der Natur Jahr für Jahr abtrotzen."

Auch das zweite Großfeuer an jenem Montag, das von Kameni, brach in einem Vorort aus, in dem sich die Menschen peu à peu zwischen den Bäumen angesiedelt und Ferienhäuser, Hotels, Restaurants gebaut haben. Der griechische Jurist Ioannis Glinavos schrieb einige Tage nach dem Feuer im britischen Independent: "Jeder kann in Griechenland einfach ein paar Bäume fällen, wo es ihm gefällt, ein Gebäude anfangen, ein paar Lokalpolitiker schmieren, um Strom anzuschließen, und dann auf die Amnestie warten, die alle paar Jahre, am besten kurz vor Wahlen, für all die Schwarzbauten kommen." Es sei die Schuld einer unehrlichen politischen Kaste, die sich ihre Wählerstimmen kauft, "eine institutionalisierte Tragödie, eine, in der ein räuberischer Staat und seine komplizenhafte Bevölkerung zusammengewachsen sind".

Bislang sind aufgrund der Katastrophe 92 Menschen gestorben, 74 von ihnen konnten identifiziert werden. 200 Menschen kamen in die Krankenhäuser der Stadt, 14 werden weiterhin vermisst.

© SZ vom 01.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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