Skandinavischer Jazz:Geht ein Seehund auf Zehenspitzen

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Agent einer kühlen, ruhigen Tiefe: Der Pianist Bobo Stenson. (Foto: Rémi Angeli)

Der einzigartige Pianist Bobo Stenson verströmt seit Jahrzehnten eine kühle, ruhige Tiefe. Das neue Album seines Trios zeigt, wie sich etwas Schweres in etwas scheinbar Leichtes verwandeln lässt.

Von Thomas Steinfeld

Ein wenig unentschieden ist das Meer vor der schwedischen Westküste, nicht mehr Ostsee, aber noch nicht Atlantik, meist zivil, aber doch zu heftigen Ausbrüchen fähig. Dort, auf den Schären vor Göteborg, lebt der Kontrabassist Anders Jormin. Er unterhält offenbar ein inniges Verhältnis zu diesem Gewässer, innig genug jedenfalls, dass er ihm eine Komposition widmete: "Oktoberhavet" ("das Oktobermeer"). Es beginnt mit einem leise gespielten, zwar durchgehaltenen, aber von kleinen Einwürfen unterbrochenen Rhythmus auf dem Schlagzeug. Ein leichter Wind scheint aufgekommen zu sein, hin und wieder wirft sich eine Möwe hinein. Dann setzt das Piano ein, mit wellenförmig hin- und herfließenden Akkorden, deren Mitte ein schweres, schlichtes a-Moll bildet.

Und dann - gibt es nicht Seehunde auf diesen Schären? Und hätten nicht Seehunde, wenn man sie aufrecht stellen könnte, einige Ähnlichkeit mit einem Kontrabass, mit ihren kleinen Köpfen, runden Bäuchen und kurzen Extremitäten? Der Kontrabass beginnt also mit einer Melodie im Sechsachteltakt, nah am Griffbrett gestrichen, und sie ist so zart und beschwingt, als käme da ein Seehund (und was für einer: ein dicker Bursche) aufrecht und auf Zehenspitzen über den Strand gewackelt.

Seit vier Jahrzehnten gibt es das Trio des schwedischen Pianisten Bobo Stenson. Seit fast drei Jahrzehnten spielt darin Anders Jormin den Bass, ein Virtuose mit einer engen Bindung nicht nur an die Tradition des Jazz, sondern auch an die nordische Volksmusik. Die Schlagzeuger wechselten häufiger: Zuerst war da der Norweger Jon Christensen, dann der Amerikaner Paul Motian, seit 2004 rührt Jon Fält gelegentlich an Trommeln und Becken - oft tut er es tatsächlich kaum mehr. Allen drei Schlagzeugern ist gemein, dass man sich bei ihnen den Takt eher denken muss, als dass man ihn vorgespielt bekommt. Überhaupt gilt für diese Gruppe, dass sie den Rhythmus, wenn sie ihn denn spielen will, wie aus weiter Ferne herbeizuholen scheint, so, als müsse man sich an ihn erinnern. Dann verliert er sich auch wieder und lässt nur noch einen Puls zurück, während die Melodie gegenwärtig bleibt. Und ist es nicht allgemein so, dass man sich leichter an eine Melodie erinnert als an einen Rhythmus, wenn auch ungenau, tastend?

Sechs Jahre ist es her, dass Bobo Stenson mit seinem Trio zuletzt ein Album veröffentlichte. "Indicum" hieß es, und von den zwölf kleinen Werken darauf stammten sieben von fremden Autoren, darunter ein Stück von Bill Evans und eines von Carl Nielsen, dem dänischen Komponisten der vorvorigen Jahrhundertwende. Nun gibt es ein neues Album desselben Ensembles, und wieder scheint sich die Erinnerung über Werke zu beugen, die auf ihren eigenen Wegen zu diesen Musikern gefunden haben: Eine kleine Komposition von Béla Bartok enthält das neue Album, eine von Erik Satie, eine von Frederic Mompou, und weil das beinahe schon zu viel späte Klassik ist, kommt auch ein Werk des kubanischen Liedermachers Silvio Rodríguez hinzu. Letzteres gibt dem Album auch den Titel: "Contra la indecisión" ("Gegen die Unentschiedenheit", ECM Records).

Skandinavischer Jazz, das hieß seit den Sechzigern: weniger Blues und mehr Spätromantik

Hört man die Alben nacheinander, fällt auf, wie sich der stets zurückhaltende Pianist Bobo Stenson in der Zwischenzeit immer noch weiter zurückgenommen hat: Es ist, als wollte er sich die Kompositionen, die fremden wie die eigenen, gar nicht wirklich für sich selbst haben, sondern sie als etwas Unverfügbares behandeln - als wollte er sie gleichsam nur ausleihen. Oder als hätte er sich Marcel Prousts Theorie der Erinnerung angeeignet, um sie auf die Musik anzuwenden, in einem Versuch, die "unablässige Bewegung, die uns fortträgt, zu verlangsamen, ja aufzuhalten", wissend, dass die gewollte Erinnerung wie ein schlechter Maler ist, der stets in "konventionellen und immergleichen Farbtönen" malt.

So kommt es, dass Béla Bartóks "Hochzeitslied aus Poniky" (1917) kaum nach slowakischer Volksmusik klingt, auch nicht nach Chor mit Klavierbegleitung, sondern zunächst nach Erik Satie, wie dieser allein am Piano sitzt - und sich ganz auf die Melodie konzentriert. Dagegen verwandelt sich Saties "Élégie" (1886) nach einer Exposition, die sich ebenfalls ganz auf die Melodie konzentriert, allmählich in einen Jazzstandard, der von Bill Evans hätte stammen können - wie überhaupt der amerikanische Pianist mit seinen langen Melodielinien das wichtigste Vorbild für diese Musik zu bilden scheint (einschließlich der Selbständigkeit, die Bill Evans seinem Bassisten Scott LaFaro gewährte).

Auch aus Silvio Rodríguez' Kampfballade ist eine lange, gewundene Linie geworden, von der sich das Klavier in seinem Solo kaum entfernt, bevor das kleine Werk am Ende in einem Ritardando verhallt - so "entschlossen", wie der Titel des Stücks ankündigt, wirkt es in dieser Darbietung durchaus nicht, wozu auch gehört, dass die Melodie sich in keiner Wiederholung gleich bleibt. Sie durchläuft Wandlungen, sie schillert in verschiedenen Farben, auch sie ist eine Erinnerung an eine "nie gekannte Fremde" (Marcel Proust).

Mit Bobo Stenson, einem klassisch geschulten Pianisten, sowie mit einigen anderen Musikern hatte Mitte der Sechziger der skandinavischen Spielart des Jazz begonnen. Sie entstand aus der Begegnung mit Amerikanern, die sich für einige Zeit im europäischen Norden niedergelassen hatten. Skandinavischer Jazz, das hieß: weniger Blues und mehr Spätromantik, weniger Groove und mehr offene Intervalle (was etwas mit der nordischen Volksmusik zu tun hat), weniger offensive Seelensuche und mehr Stille.

In diesem Sinne, als Kontrast oder als Agent einer kühlen, ruhigen Tiefe, fungierte Bobo Stenson im Ensemble des amerikanischen Saxofonisten Charles Lloyd, dem er elf Jahre, von 1988 bis 1999, angehörte. In den Jahren bis heute entwickelte er, unter anderem in einem Ensemble mit dem polnischen Trompeter Tomasz Stanko, diese Spielweise weiter. Bobo Stenson ist jetzt 73 Jahre alt. Immer wusste er Töne so zu spielen, als müssten erst noch Gestalt gewinnen. Allmählich jedoch erreicht er die Kunst, sie erklingen zu lassen, auch wenn sie gar nicht intoniert werden. Keinen Pianisten gibt es, der so spielte.

Auf den Fotos, die im Begleitheft zum neuen Album reproduziert sind, sieht man das Bobo Stenson Trio bei den Aufnahmen. Es gibt, anders als bei den meisten Einspielungen im Studio, keine Stellwände zwischen den Musikern. Sie tragen nicht einmal Kopfhörer, sondern scheinen einander direkt zuzuhören. Tatsächlich hört sich das Album an, als hätte es eine solche Gemeinsamkeit des Musizierens gegeben.

Denn so viel Behutsamkeit Bobo Stenson gegenüber den Kompositionen walten lässt, so viel Achtung erweist er seinen beiden Mitspielern. So wandern die Melodien hin und her, vom Bass zum Schlagzeug und vom Schlagzeug zum Piano. Es ist viel Luft dazwischen, ohne dass die Musik an Intensität verlöre. Und dann gibt es ein Stück namens "Three Shades of a House", ein Werk Anders Jormins (der für vier der sechs Eigenkompositionen steht). Der Bassist beginnt das Stück allein, mit einer Sequenz aus natürlichen Flageoletts, die er sich aus einem Stück des amerikanischen Bassisten Jaco Pastorius borgt ("Portrait of Tracy", 1976). Noch einmal tritt hier der Seehund auf. Dieses Mal kullert er zum Meer hinunter, um dann erstaunlich graziös wieder auf seinen Felsen zurückzuplatschen.

© SZ vom 26.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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