Serie "Am Wasser":Der See seines Lebens

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Lovis Corinth liebte und fürchtete den Walchensee und malte ihn mehr als sechzig Mal. Auf der einst verlassenen Passtraße rast heute die Freizeitgesellschaft nach Süden

Von Martina Knoben

Der See macht es spannend. Nähert man sich von Norden, versperrt der Kesselberg den Blick. In vielen Kehren windet sich die Bundesstraße 11 von Kochel 255 Meter hinauf zur Passhöhe. Den Walchensee sieht man immer noch nicht. Erst in der nächsten Krümmung der Straße breitet sich das Landschaftsspektakel aus - mit See, Wetterstein- und Karwendelgebirge.

Als der Maler Lovis Corinth mit seiner Frau Charlotte und den Kindern Thomas und Wilhelmine 1918 das erste Mal an den Walchensee kam, muss sich ihm die Landschaft so ähnlich präsentiert haben, wie er sie zwei Jahre später auch in seinem Bild "Serpentine" malte. Rechts ragen die Hänge des Herzogstands auf; im Hintergrund ist der Wetterstein mit den Dreitorspitzen zu erkennen, dessen wolkenverhangene Gipfel fast mit dem Himmel verschmelzen. Seinen Titel aber hat das Bild von der Kesselbergstraße. Sie verführt den Betrachter mit einem Hüftschwung, leitet dann den Blick hinunter in das Dorf Urfeld und mündet scheinbar direkt in den See.

Der Walchensee ist der größte und mit 192 Metern tiefste Gebirgssee Deutschlands. Sein Wasser ist kalt und klar. "Der See wechselt in rätselhaften Farben und Stimmungen", schrieb Corinth: "Bald blitzt er wie ein Smaragd, bald wird er blau wie ein Saphir und dann glitzern Amethyste im Ring mit der gewaltigen Einfassung von alten, schwarzen Tannen, die sich noch schwärzer in dem klaren Wasser spiegeln." So sehr faszinierte ihn der See, dass er ihn immer und immer wieder malte. Meistens ohne Menschen, häufig mit einer Lärche im Vordergrund, einmal mit einer Kuh.

Zum Geburtstag malte er Selbstporträts, in den späten Jahren fast immer mit dem Walchensee im Hintergrund. Berühmt ist das "Große Selbstporträt vor dem Walchensee", 1924, in dem sich Corinth im rot-weiß gestreiften Hemd vor dem Hintergrund des Karwendels eingebettet in eine scheinbar ewige Natur in Sommerfarben voller Vitalität zeigt. Es war sein letztes Geburtstagsbild.

"Wunderschön ist der Walchensee, wenn der Himmel schön ist, aber unheimlich, wenn die Naturgewalten toben", hat Corinth geschrieben: "Wenn die Steinlawinen von den Bergspitzen herunterrollen und die stärksten Bäume wie Streichhölzer knicken, kennzeichnen sie die Spur ihres Unheils in grauenvoller Verwüstung bis in den See hinein." In den dramatischen Kontrasten des Bildes "Serpentine", dem Gegensatz zwischen dem Weiß der Straße, der Häuser und des Himmels zum tiefen Grün und Blau der Wälder und des Sees lässt sich die Naturgewalt ahnen, die in der Sommerfrische steckte. Postkartenidyllen, wie sie einen Stock tiefer, am Kochel- oder Staffelsee leichter zu finden gewesen wären, hätten diesen melancholischen Maler und Kraftmenschen wohl auch gelangweilt.

Seine Frau war ebenfalls Malerin. Er verbot ihr den Walchensee als Motiv.

1918 kam Corinth zum ersten Mal nach Urfeld, um seinen 60. Geburtstag zu feiern. Mit seiner Familie wohnte er im "Hotel Fischer am See", auf seinem Bild "Serpentine" rechts im Hintergrund ebenso zu erkennen wie der Gasthof zur Post (links mit rotem Dach und weißen Wänden), der Corinth, immerhin einem prominenten Vertreter der Berliner Secession, am 21. Juli 1918 seine Jubiläumsfeier ausrichtete.

Blickt man heute vom Kesselberg kommend hinunter nach Urfeld, wirkt der Ort fast unverändert. Am Ortseingang werden Tretboote verliehen; das "Café am See" verkauft Lebensmittel und Angelbedarf - nur Mittwoch und Donnerstag ist Ruhetag. Im Gasthof zur Post ist mittlerweile das Walchensee-Museum untergebracht, in dem neben vielen anderen Exponaten 300 grafische Arbeiten Corinths zu sehen sind. Auf drei Etagen findet sich eine charmant-skurrile Mischung, viel Kunst, aber auch Kram. Lithografien Corinths sind zu sehen, aus der Mappe "Das ABC in Bildern" oder "Anna Boleyn". Außerdem Walchensee-Gemälde unbekannter Meister, Walchensee-Postkarten und Werbebroschüren, Betten aus der alten "Post", ein paar Ski von Corinths Kollegen Franz Marc.

Wer etwas über den Walchensee, Urfeld oder Corinth erfahren will, sollte den Museumsgründer und -leiter Friedhelm Oriwol und seine Frau Inge fragen. Sie erzählen von den Prominenten, die in Urfeld Villen besaßen, von rauschenden Festen auf der Insel Sassau. Und dass Handwerker aus Kochel witzelten, sie müssten für Urfeld ein weißes Hemd anziehen: der vielen vornehmen Leute wegen.

Hier ließ Corinth sich nieder. "Damit ich meine Ruhe habe", zitiert Oriwol den Maler: "Dabei sprach Corinth so laut, dass man es in ganz Urfeld hören konnte." Corinth, der sich laut Oriwol "kleidete wie Rübezahl", der trank und überhaupt ein griesgrämiger Kraftkerl gewesen sei, ist ihm nicht wirklich sympathisch. An die Stirnseite der Corinth-Ausstellungsräume hat er deshalb ein Selbstporträt von Corinths Ehefrau Charlotte gehängt. Sie war ebenfalls Malerin, aber den Walchensee hatte ihr Gatte ihr als Motiv verboten. "Jetzt guckt sie durch alle Räume auf sein Werk und würde auf den Walchensee blicken, wenn wir hier die Wand durchbrechen würden", sagt Oriwol voller Genugtuung.

Vom Verkauf nur eines Gemäldes konnte Charlotte Berend-Corinth der Familie ein Sommerhaus bauen lassen im letzten Kriegsjahr. 1919 konnten "die Corinther" einziehen. Das Holzhaus, das nach einem Spitznamen Charlottes auch "Haus Petermann" genannt wurde, liegt verborgen im Hang oberhalb von Urfeld. Knapp 15 Minuten Fußweg auf schlechten Pfaden führen vom Walchensee-Museum dorthin. Auf der Terrasse des Hauses konnte Corinth nun zu jeder Tages- und Nachtzeit, im Sommer wie im Winter "Walchenseebilder" malen. Mehr als 60 Stück sind bis zu seinem Tod 1925 entstanden. Damit der Künstler freie Sicht auf das Wasser hatte, wurde das Grundstück gerodet. Charlotte Berend-Corinth kaufte sogar Land dazu, damit der Seeblick nicht verbaut werden konnte.

Die fleckig hingepeitschten Farben dieser Bilder, in denen sich die Konturen der Berge, des Himmels und der Bäume beinahe auflösen, ihre flirrende, ins Unendliche weisende Tiefe, geben die wechselnden Stimmungen der Landschaft ebenso wieder wie die des Malers. Es sind Seelenlandschaften, wenn auch lukrative. Die Berliner hätten ihm die Walchenseebilder förmlich von der Staffelei gerissen, schreibt Corinth in seiner "Selbstbiografie". Das Motiv war exotisch; so viel kam man in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ja noch nicht rum.

Zwar reiste Lovis Corinth erster Klasse, doch war der Weg von Berlin nach Urfeld mühsam. Einmal flog er mit dem Zeppelin von Berlin an den Bodensee und vom Bodensee nach München. Von dort aus reiste er mit dem Bummelzug weiter nach Kochel und von Kochel mit dem Pferdefuhrwerk an den See. Zwei solche Pferdefuhrwerke sind im Bild "Serpentine" zu sehen. Sie vor allem - und die ansonsten leere Straße - machen den Wandel deutlich, den diese Landschaft erfahren hat. Da, wo im Bild gemütlich die Pferde zockeln, wird man heute beim Versuch, die Straße zu überqueren, beinahe überfahren.

Als der Vater Lovis das Bild malte, hielt sein Sohn die Staffelei - so heftig blies der "Kocheler Wind"

Unter den "Walchenseebildern" stellt "Serpentine" eine Ausnahme dar. Es ist das einzige Bild, für das der Maler, der damals schon nicht mehr gut zu Fuß war, die Umgebung seines Sommerhauses verließ, erst hinunter nach Urfeld und dann die Passstraße hinaufging. Heute führt ein kleiner Pfad vom Ortseingang zu der Stelle, wo Corinth seine Staffelei aufgestellt haben könnte. Sein Sohn Thomas schrieb über die Entstehung von "Serpentine": "Als mein Vater letzteres Bild malte, war ich dabei, um die Staffelei bei dem verheerenden Wind festzuhalten. Dieser Wind wurde in Urfeld ,Der Kocheler Wind' genannt, welcher fast täglich am Spätvormittag von der Richtung Kochel am Kochelsee auftrat."

Im Hochsommer 2018 ist vom "Kocheler Wind" nichts zu spüren - dafür wird man vom Verkehr auf der Kesselbergstraße fast weggefegt. Motorräder rasen vorbei, Wohnmobile, Autos mit und ohne Fahrradträger; auch Mountainbiker und Rennradler lassen es den Pass hinunter endlich laufen. Der Kesselberg und Urfeld sind zur Durchgangsstation geworden. Richtung Wallgau, Mittenwald und Tirol ist die Freizeitgesellschaft unterwegs. Oder zum Parkplatz der Herzogstandbahn: 1954 wurde zunächst ein steiler Sessellift auf den Fahrenbergkopf in Betrieb genommen, 1994 dann die heutige Seilbahn. Wer käme jetzt noch auf die Idee, ausgerechnet die Kesselbergstraße zum schwungvollen Zentrum eines Gebirgsbildes zu erklären? Alte Urfelder erzählen, dass sie sich noch in den Fünfzigerjahren nach dem Baden im See zum Trocknen auf die Straße gelegt haben. Die wenigen Autos, die damals dort unterwegs waren, hörten die Jugendlichen schon lange im Voraus. Dabei hatten schon in den Jahren 1905 und 1907 die ersten Straßenrennen auf der Kesselbergstraße stattgefunden. Die weiten Kurven am Scheitel des Passes erlaubten für damalige Verhältnisse ungeheure Geschwindigkeiten.

Für unsere Sommerserie besuchen wir Strände und Ufer in der Kunst und der Wirklichkeit (Foto: SZ)

Heute rasen alle. Und die Erholungssuchenden sind so rasant unterwegs, dass fast alle das Denkmal in der ersten Kurve unterhalb des Passes übersehen. Auf einem hohen Steinsockel, in der Mitte einer bogenförmigen Sitzmauer, blickt der aus Basaltstein geformte Kopf Johann Wolfgang von Goethes seit 1933 auf den See. Er erinnert daran, dass auch der Dichter auf seiner Italienischen Reise 1786 hier vorbeigekommen sein muss. Von der Gemeinde Urfeld wurde die Entstehung des Bildes "Serpentine" kurzerhand ebenfalls an diesen Platz "verlegt". Eine kleine Tafel neben dem Denkmal zeigt eine Minireproduktion des Bildes. Hier in der Nähe soll Corinth es gemalt haben.

So ganz stimmen kann das nicht. Der Maler muss von weiter unten auf den See geblickt oder bei der Perspektive geschummelt haben. Wo genau "Serpentine" entstand, lässt sich nicht mehr ausmachen. Der Blick ist zugewuchert. Das liegt am Fremdenverkehr, der offenbar schon vor hundert Jahren lukrativer war als die Landwirtschaft. Wo früher einmal ein Bauernhof war, stand schon um 1920 das "Hotel Fischer am See". Es gab kein Vieh mehr, das die Hänge zum Kesselberg abweiden konnte, stattdessen kamen Autos, das Dickicht wuchs. Der Walchensee und Urfeld sind von der "Serpentine" nur noch zu erahnen.

© SZ vom 03.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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