Serie: Am Wasser:Der anstößige Superstar

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Katsushika Hokusais "Große Welle vor Kanagawa" ist das bekannteste Gemälde der japanischen Kunstgeschichte. Woran liegt es dann, dass die Japaner selbst das Bild kaum schätzen? Eine Spurensuche.

Von Andrian Kreye

Wenn der Berg Fuji im Sommer über der Küste der Präfektur Kanagawa aus den Wolken auftaucht, dann blicken auch die Geschäftsreisenden im Tokaido-Shinkansen bei 270 Kilometern pro Stunde lange von ihren Laptops auf, und die Surfer vor der Halbinsel Enoshima stellen Bilder auf Instagram, auf denen der Gipfel hinter den Wellenkämmen steht. Man erkennt ihn sofort. Die Farbholzschnittdrucke Katsushika Hokusais haben die Flankenwinkel des Vulkankegels als universalverständliches Symbol im Weltgedächtnis verankert.

Hokusais Serie "36 Ansichten des Berges Fuji" im Ukiyo-e-Stil des frühen 19. Jahrhunderts sind das weltweit bekannteste Kunstwerk seiner Heimat Japan. Vor allem das Motiv "Die große Welle vor Kanagawa", jener tiefblaue Wellenberg, der sich mit mächtiger Gischtkrone über drei Oshiokuri-Frachtbooten auftürmt und den Berg Fuji zu einem Winzling reduziert, ist ein so ikonisches Stück Weltkultur, dass es zum inoffiziellen Nationalsymbol Japans wurde und zum inflationären Motiv der Poster-, Pop- und Souvenirkultur. Tippt man auf einem iPhone das Wort "Welle" ein, bietet einem die Vervollständigungsautomatik Hokusais Bild als Emoji an.

Hokusai selbst ging es in der Serie nicht um das Wasser, sondern um den Berg. Den erkennt man selbst dann, wenn die charakteristische Schneekuppe, so wie in den Sommern der letzten Jahre, abgeschmolzen ist, und er grüngrau und diffus über die endlosen Vororte der Megalopolis von Tokio und Yokohama ragt, über die Dörfer und Reisfelder von Kanagawa und die Küstenstädtchen am Pazifik. Der Klimawandel ist im japanischen Sommer von 2018 eine sehr realistische Erfahrung, weil die Temperaturen seit Monaten selten unter 30, und öfter mal gen 40 Grad gegangen sind, und die Taifune in einer Häufigkeit und mit einer Wucht über den Inselstaat fegten wie schon lange nicht mehr.

Das hielt die Massen nicht davon ab, den Fuji auch in diesem Sommer der mörderischen Hitze zu besteigen. Japans Wahrzeichen war während der Klettersaison zwischen Anfang Juli und Mitte September so beliebt, dass die Bergsteiger an manchen Engpässen Schlange standen. Den Fuji zu besteigen, steht auf der Lebenstraumliste sehr vieler Menschen, nicht nur in Japan. Er ist so etwas wie der Mount Everest der Untrainierten. Bis zu vierhunderttausend Wanderer machen sich jedes Jahr auf den Weg. Dass man ihn von Tokio oder Yokohama bei gutem Wetter so verblüffend nahe sehen kann, täuscht allerdings darüber hinweg, dass er ein anspruchsvoller Berg von über 3700 Metern ist. Jedes Jahr wieder kommen Dutzende auf dem Weg zum Gipfel um.

Als Katsushika Hokusai 1829 mit der Arbeit an seiner Serie der Farbholzschnitte begann, durften Ausländer und Frauen den heiligen Berg noch nicht besteigen. Neuland war er keineswegs. Seit der Erstbesteigung eines Mönchs im Jahre 663 war er das Ziel buddhistischer Pilgerfahrten. Erst später wurde aus dem heiligen Berg ein Nationalsymbol, als Edo, das einstmalige Fischerdorf und spätere Tokio, im 17. Jahrhundert die Kaiserstadt Kyoto als politisches Zentrum ablöste. Bald schon war Edo die größte Stadt der Welt und der Fuji ein mächtiges Element im Alltag der Hauptstädter.

Hokusais Meisterwerk war nicht als solches geplant. Farbholzschnitte waren Massenware und der Fuji ein beliebtes Motiv. "Manga" nannte Hokusai seine Bildserien, nach dem Begriff, der die Karikaturen, Fantasy-Fabeln und oft obszönen Bildgeschichten bezeichnete, die schon seit dem Mittelalter unters Volk gebracht wurden. Deswegen waren viele Japaner auch keineswegs froh, dass mit der allmählichen Öffnung Japans nach dem Vertrag von Kanagawa im Jahr 1854 ausgerechnet Hokusais plakative Drucke als Musterexemplare japanischer Kunst gehandelt wurden.

Vor allem in Europa war sein Erfolg gewaltig. Vincent und Theo Van Gogh, bald auch Claude Monet, Édouard Manet und Edgar Degas begeisterten sich für Hokusai und seine Zeitgenossen wie Utagawa Hiroshige oder Tōshūsai Sharaku. Sie legten Sammlungen an, übernahmen Elemente der Bildsprache. Claude Debussy widmete der Welle das Orchesterstück "La Mer" und Rainer Maria Rilke dem gesamten Zyklus sein Gedicht "Der Berg".

Für Japans Kunstgeschichte sind die Stars des Ukiyo-e vulgäre Fußnoten, die bis heute die Klischees des Japonismus transportieren. Erschwerend hinzu kommt, dass sich Hokusai mit seinen Fuji-Bildern erstmals auf die Perspektiven der europäischen Maler einließ und mit dem Preußisch Blau eine viel zu knallige Farbe benutzte, ein synthetisches Pigment aus Berlin, das er über China importiert hatte. Beides passt nicht zum isolationistischen Kulturverständnis der Japaner. Im Prachtbau des Nationalmuseums von Tokio gibt es jedenfalls nur einen einzigen Saal im Nordwesteck des Obergeschoßes, in dem man die vom Rest der Welt so geliebten Drucke sehen kann, und derzeit nicht einmal einen von Hokusai. Wer mehr sehen will, muss die U-Bahn nach Sumida nehmen, den Bezirk am Ufer des gleichnamigen Flusses, in dem Hokusai die meiste Zeit seines Lebens lebte, und wo sie ihm vor anderthalb Jahren ein kleines, wenn auch architektonisch spektakuläres Museum eingerichtet haben.

Der Streit um Hokusai und Ukiyo-e nahm schon früh das Leitmotiv der japanischen Kunstgeschichte auf, die sich damit abfinden muss, dass der Westen Künstler als Stellvertreter der japanischen Kultur auswählt, die eher das Bild der Ausländer von Japan als die eigentliche Kunsthistorie widerspiegeln. Yayoi Kusama gehört dazu, die seit den Siebzigerjahren ihre psychedelische Pop-Art in einer psychiatrischen Klinik produziert. Oder Takashi Murakami, der in Amerika und Europa mit seinen Bildern im Stil zeitgenössischer Manga-Comics als Superstar gefeiert wird, dessen Bücher und Werke man in Japan selbst aber kaum findet.

Man sucht auch vergeblich nach kunsthistorischen Texten, die einem die enorme Bedeutung und den Symbolismus Hokusais erklären könnten, seine späte Anerkennung über den Umweg des Auslands, der ihn aber doch nur zum Hauptmotiv der Fremdenverkehrswerbung und Souvenirproduktion gemacht hat. An jeder Ecke gibt es seine Welle zu kaufen. Auf T-Shirts, Tassen, Socken und auf den Etiketten der "J Cola" von Pepsi. Doch Hermeneutik und Theorie sind westliche Konzepte. Nur der Physiker Hisami Nakamura hat sich mit seinem britischen Kollegen Julyan Cartwright mit Hokusais Welle beschäftigt und belegt, dass es sich nicht, wie vermutet, um einen Tsunami handelte, sondern um eine ebenso tödliche Monsterwelle. Viel mehr gibt es tatsächlich nicht.

Für unsere Sommerserie besuchen wir Strände und Ufer in der Kunst und der Wirklichkeit (Foto: SZ)

Sucht man nun nach den Aussichtspunkten Hokusais, wird man kaum mehr fündig. Wahrscheinlich nahm er den Fuji in den Blick von Kanagawa aus, das damals noch der wichtigste Außenhandelspunkt Japans war, bevor das benachbarte Yokohama mit der Öffnung zum größten Hafen des Landes wurde. Längst hat die Megalopolis den Küstenverlauf geschluckt. Erst weit hinter Yokohama franst die Stadt in die Reisfelder aus. Blickt man von Hokusais vermutlichem Ausblick auf den Fuji, sieht man vor allem Büro- und Hoteltürme, davor die Achterbahn des Vergnügungsparks Cosmoland und das Museum für Fertignudelsuppen.

Auch in Tokio sind die Spuren der Oshiokuri-Frachtboote längst verschwunden, die von hier aus nach Kanagawa in See stachen, wo sie Hokusais Welle zu verschlucken droht. Dort hat die künstliche Insel Odaiba in den letzten zwanzig Jahren die Stadt in die Bucht hinein erweitert, von der aus man einen wunderbaren Blick auf die Skyline hat. Im monumentalen Kongresszentrum Big Sight auf Odaiba versammeln sich an einem stechend heißen Augustwochenende die Erben Hokusais zu ihrem Gipfeltreffen. Comiket heißt diese größte Comicmesse der Welt. Hier treten keine Hollywoodstars auf, es gibt kaum Spektakel, nur endlose Reihen Klapptische, an denen Manga-Zeichner stehen und hoffen, dass einer der großen Verlage oder Studios ihre Geschichten zum Welterfolg macht.

Eine halbe Million Fans kommen an diesem Wochenende ins Big Sight, drängen sich durch Hallen und Reihen. Man findet Hokusais Vermächtnis überall, seinen feinen Strich, die explosiven Bewegungen, die grellen Farben in den unzähligen Heftchen und Bänden. Und ja, seine Welle findet man auch. Auf einer Packung Mangazeichenstifte. Symbol für die Hoffnung auf den Welterfolg, auch wenn die heimische Hochkultur die Mangas genauso als Schund verachtet wie einst die Farbholzschnitte des Meisters.

© SZ vom 11.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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