Serbien:Insel, Scholle, Kontinent

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Auf dem Weg nach Europa, ohne Umwege: Eine flüchtende Mutter in Serbien unterwegs zur Grenze nach Kroatien. (Foto: Armend Nimani/AFP)

Wir haben etwas gemein mit den Durchreisenden aus aller Welt, die auf der Suche nach dem besseren Leben sind. Unser Land möchte selbst so gern in die EU.

Von Dragan Velikić

Seit jeher haben sich Völker aufgemacht, die vor Krieg flohen und ein besseres, sicheres Leben suchten. Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine von Wanderungen und Vermischungen der Völker und ihrer Kulturen, seit den Zeiten der ersten Zivilisationen Mesopotamiens.

Zuletzt überquerten viele Flüchtlinge aus Afrika das Mittelmeer, um Europa zu erreichen. Seit dem Arabischen Frühling aber, der die gesamte Region entflammt hat, bewegen sich Hunderttausende Migranten. Vergessen wir dabei nicht, dass auch Nato-Länder Schirmherren der Aufstände waren. Die Gesetze der Physik sind unabänderlich. Rechnungen werden stets zur Zahlung fällig.

Freiwillige brachten Essen, Schuhe, Medikamente. Kinder bekamen Spielplätze

In Serbien kamen die ersten Flüchtlinge aus Afrika und Asien vor fünf Jahren an. Der Staat eröffnete ein Aufnahmezentrum im Süden Serbiens. Es gab Proteste von Bürgern, die fürchteten, dass sich Asylanten negativ auf den Tourismus auswirken würden. Später wurden weitere Lager eingerichtet. Seit diesem Frühling überquerten täglich Tausende Flüchtlinge mit dem Ziel EU die mazedonisch-serbische Grenze. Der Park vor dem Bahnhof in Belgrad wurde zu ihrem Lager. Der Staat organisierte ein Aufnahmelager an der Peripherie von Belgrad, wo die Flüchtlinge unter besseren Bedingungen hätten Atem schöpfen können, bevor sie ihren Weg zu ihrem eigentlichen Ziel fortsetzten - Deutschland, Schweden . . . Doch die Flüchtlinge lehnten es ab, nur einen Tag von dem Pfad abzuweichen, der sie zur ungarischen und kroatischen Grenze führen würde. Über die sozialen Netze organisierten Belgrader Bürger im Kulturzentrum Mixer House und an anderen Punkten Hilfe für die Migranten: Schuhe, Kleidung, Essen, Medikamente und Hygienemittel. Freiwillige mit Arabisch-Kenntnissen boten Tag und Nacht Hilfe an. Spielplätze für die Kinder der Migranten wurden organisiert.

Die Flüchtlingskrise hat die öffentliche Meinung auch in Serbien geteilt. Die einen glauben, dass die Migranten mit anderem Glauben, anderen Bräuchen Europa und seine zivilisatorischen Werte bedrohen - die anderen, die in der Mehrheit sind, sehen in ihnen keine Gefahr. Für seine menschliche Haltung gegenüber den Migranten hat Serbien Lob von Ländern der EU erhalten. Premier Aleksandar Vučić sagte mehrmals, dass Serbien - obwohl (noch) kein EU-Mitglied - bereit ist, eine gewisse Quote an Flüchtlingen aufzunehmen. Wird die Migrantenkrise die Eröffnung der Verhandlungen zwischen Serbien und der EU bei seinem Weg in die EU beschleunigen? Oder werden weitere Flüchtlingswellen das Europa, in das auch Serbien will, für immer verändern?

Ich möchte mit den Versen des Dichters John Donne schließen, die Hemingway zum Motto von "Wem die Stunde schlägt" nahm: "Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn's eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst."

Dragan Velikić wurde 1953 in Belgrad geboren. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Roman "Bonavia" (Hanser). Aus dem Serbischen von Florian Hassel.

© SZ vom 10.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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