Irische Literatur:Gespenster des Westens

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Schwule Desperados voller Angst: Sebastian Barrys Neo-Western "Tage ohne Ende" erzählt vom Gären der USA.

Von Jörg Häntzschel

Heute würde man Thomas McNulty und John Cole einfach schwul nennen. Doch in Sebastian Barrys erschütterndem Neo-Western "Tage ohne Ende" fällt dieses Wort kein einziges Mal. Jenseits des Mississippi sind die Grenzen noch nicht gezogen, die Zäune noch nicht aufgestellt. Es gibt kein Bedürfnis, seine Vorlieben in Begriffe zu stanzen und zu rahmen wie Diplome. Alles ist noch im Werden, undefiniert, unbekannt, unbenannt: das Land wie die Biografien. Sie beginnen bei null, wie die von McNulty, der "13 oder so" war, als er aus Irland nach Kanada kam, Eltern und Schwestern waren schon unter der Erde: "Ich liebte meinen Vater, früher, als ich noch ein Mensch war. Dann starb er, und ich hungerte, und dann das Schiff. Dann nichts. Dann Amerika." Und alles, was vorher war, "verwandelte sich in so was wie Tierscheiße."

Den noch jüngeren Cole trifft McNulty zwei Jahre später, als sie beide auf der Suche nach einem Job durch Daggsville, Missouri stolpern, eine zusammengenagelte Frontierstadt, deren Saloonbesitzer pragmatisch denkt. Weil es in dem Bergarbeiternest an Frauen mangelt, sucht er als Ersatz zwei Männer, die in Frauenkleidern die Tänzerinnen geben. Crossdressing nicht als Queer-Veranstaltung, sondern als Notlösung, von der man hofft, sie möge nicht allzu sehr auffallen. Für Thomas und John ist es der Job ihres Lebens.

Doch kaum sind sie ganz in ihrer Rolle aufgegangen, sind sie ihr schon wieder entwachsen. Die Frauenkleider passen nicht mehr. Also spielen sie jetzt, ebenso überzeugend, Männer. Sie heuern bei der Armee an und driften von nun an zwischen St. Louis, Kalifornien und Tennessee über die Great Plains wie Treibholz auf einem sehr großen See.

Was eigentlich das Ziel ihres wochenlangen Ritts nach Westen ist, darüber wird nicht gesprochen. "Doch tief in unsrem Herzen wussten wir, was unsere Arbeit war: die Indianer." Nach den ersten Scharmützeln stellt sich die Frage gar nicht mehr. Sie genügen, um die Soldaten in eine nicht endende Kette aus gegenseitigen Attacken und Vergeltungsaktionen mit einem Stamm der Sioux zu verwickeln. Das Morden folgt nun seiner eigenen, über Jahre anhaltenden Dynamik, jedes Gemetzel zieht das nächste nach sich.

Es ist nicht so, dass es McNulty nichts ausmachte, Menschen zu töten. Im Gegenteil. Entsetzt teilt er mit, wie es aussieht, wenn sie von ihren Pferden stürzen, wenn ihnen Köpfe oder Geschlechtsteile abgeschnitten werden, wenn sie verbrennen. Doch noch mehr fürchtet er sich davor, sein eigenes Menschsein bei lebendigem Leibe zu verlieren, so wie schon einmal auf dem Schiff. "Soldaten weinten, aber es waren keine mir bekannten Tränen. (...) Wir waren ohne Ort, wir waren nicht vorhanden, wir waren nur noch Gespenster."

Es ist diese ständige Drohung, zum Gespenst zu werden, die den Roman so erschütternd macht. Mit genauem Blick zeichnet der Scharfschütze McNulty die verstörende Schönheit und Schrecklichkeit der amerikanischen Weite auf, die vielen grausamen und wenigen guten Taten des kleinen Trupps. Doch das Echo, das aus seinem Inneren zurückhallt, klingt hölzern und tonlos. Es ist, als höre der Erzähler sich selbst nicht zu; als sehe er, doch verstehe nicht, als stünden ihm nur anderer Leute Worte zur Verfügung. Der Leser muss versuchen, diese Lücke zwischen aufwühlendem Geschehen und Plauderton zu schließen, ihren Ursprung zu finden und nach dem wahren McNulty zu suchen.

Die Sprache spielt dabei eine Schlüsselrolle. Barry ist es gelungen, dem ungefügen, armen Ton eines unbedarften, von Kälte und Trauer zerschlissenen 20-Jährigen einen unerwarteten sinnlichen Reichtum zu geben: "Einer der Gegner hat's fast bis zum Haus geschafft, doch jetzt liegt er tot mit ausgebreiteten Armen da, und ein andrer weiter hinten ist zu Boden gegangen und nur noch ein schwarzer Pinselstrich auf dem Frost. Der gefallene Regen ist am Boden gefroren, und das ist die Geschichte, die er erzählt." Hans-Christian Oeser transportiert diese Kunstsprache überzeugend ins Deutsche.

Sebastian Barry ist Ire. Vielleicht ist sein Blick in das Amerika des 19. Jahrhunderts deshalb so neu. Anfangs erscheint es weniger als Ort, denn als Zustand. So indifferent ist die Landschaft, dass die, die sie durchreiten, wie in Trance fallen. Kaum sind dann endlich ein paar Bezugspunkte etabliert, ein Fort, der Schauplatz eines Massakers, Sioux-Dörfer, stellt sich der umgekehrte Effekt ein: Der Westen ist so arm an Menschen, dass McNulty und Cole die eigene Geschichte immer schon vorauseilt. Die Spuren, die sie in der unberührten Weite hinterlassen, sind so unübersehbar, dass die Angst, verfolgt zu werden, immer mit im Sattel sitzt. Für diejenigen, die es durchqueren müssen, ist Amerika wie ein tückischer Organismus, der sich wechselweise ins Unermessliche aufbläht, dann wieder jäh zusammenzieht und dabei alles, was hinter dem Horizont versteckt bleiben sollte, auf nächste Nähe heranholt.

Etwas wie Sinn ist in all dem nicht zu erkennen. McNulty und Cole suchen ihn auch gar nicht. Sie folgen den Notwendigkeiten und Gelegenheiten, wie sie sich ergeben, und werden Teil der gärenden Masse eines Kontinents. Sie erleben einen kurzen, glücklichen Moment, als sie sich mit dem von ihnen adoptierten Indianermädchen Winona in St. Louis eingerichtet haben. Dann bleiben die Zuschauer ihrer Vaudeville-Show aus, weil sie in den Bürgerkrieg ziehen. Also folgen sie ihnen mangels anderer Einnahmequellen und schießen, wie von ihnen erwartet wird, auf andere, die sich von ihnen nur durch die Farbe ihrer Uniform unterscheiden. Selbst, wenn Sebastian Barry seine Helden an reale Orte führt, an denen sich Geschichte katastrophisch geballt hat, wie das Kriegsgefangenenlager Andersonville in Georgia, in dem 1864 und 1865 von 45 000 Gefangenen 13 000 starben, und in dem die beiden fast verhungern, bleiben sie im Inneren unberührt. Solange sie noch am Leben sind, kann sie der Tod nicht erschüttern.

So überzeugend Barry das Frontier-Leben auferstehen lässt, so klar ist zugleich, dass er das aus der liberalen Sicht des 21. Jahrhunderts tut. Wie kann man sich das vorstellen: zwei schwule Desperados im Wilden Westen?, fragt er. Schade nur, dass diese Spannung auf den letzten Seiten kippt. Dort bricht das 21. Jahrhundert ins 19. Jahrhundert ein und sorgt für märchenhafte Versöhnung.

© SZ vom 18.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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