Maggiwürze und Klettverschluss, Alufolie und Schwarzgeldkonto - die Schweiz war immer ein Land der Tüftler und Erfinder. Und nun wagt man nichts weniger als die Neuerfindung des Buches. Keine Angst, nicht in digitaler Form, was ja seiner Abschaffung Vorschub leisten würde, nein, ganz absichtlich analog, mit hochwertigstem Schweizer Papier und Druck. "Imaginary Wanderings Press" nennt sich das verspielte Konvolut, das aus zwölf "Tableaus", ausklappbaren Kartons, besteht und einem Essayband, der die zwölf Themen der Tableaus aufgreift und vertieft. Im ersten Band dieser neuen, von der Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti konzipierten Reihe geht es um die Schweizer Sehnsuchtslandschaft schlechthin: den Vierwaldstätter See und den Gotthard.
Die Kulturgeschichte dieser nicht erst seit Schillers "Wilhelm Tell" mythischen Landschaft wird so auf sehr ansprechende, spielerische und trotzdem tief gehende Weise sichtbar gemacht. So bekommt man etwa im Tableau, das dem Thema Farben gewidmet ist, einen Farbfächer zur Hand, der einem die Farbabstufungen von William Turner vor Augen führt, die dieser in seinen Gemälden der den Vierwaldstätter See überragenden Rigi verwendet hat. Im Essay dazu erfährt man, dass Turner im Gasthof Schwanen in Luzern logierte und hier einige seiner wichtigsten Werke gemalt hat, darunter "Die blaue Rigi". Am drastischen Wechsel von Licht und Atmosphäre über dem See konnte Turner seine dynamische Bildsprache entwickeln.
Mit Wilhelm Tell unter dem Arm reisten die Gäste her. Der See ist eine Bühne für Projektionen
Nicht umsonst wurde der See von vielen Literaten als eine Art Theater beschrieben, etwa von Henry James: "Ein Theaterbetrieb, in dem die Kulissenschieber (...) Wolken anhäufen, Licht streuen, auslöschen und wieder ankurbeln im spielerischen Umgang mit dieser wunderbaren Maschine aus Nebel und Dunst." Das Tableau zum Thema Theater besteht aus einem ausklappbaren, historisch anmutenden Kupferstich, der das Seepanorama, aber auch das moderne Festspielhaus zeigt und gerahmt wird von einem roten Vorhang, der sich beim Anfassen wie Samt anfühlt. Man nimmt das alles sehr gerne und neugierig in die Hand, staunt und schaut, liest und stanzt aus, wie etwa den Schweizer Drachen zum Selberbasteln. Im gleichnamigen Kapitel geht es um den jahrhundertelangen Glauben an Drachen, die auch in Werken sonst seriöser Buchautoren durch die zunächst als schrecklich empfundenen Berge flogen. Die "Imaginary Wanderings" sind auch deshalb so gelungen, weil eine hervorragende Grafikdesignerin sowie eine ebenso gute Illustratorin am Werk waren. Gespart wurde hier an nichts.
Natürlich geht es auch um Schillers "Tell", der hier in Altdorf und am Rütli spielt und weswegen im 19. Jahrhundert die Menschen mit dem Buch in der Hand hierher gereist sind. Das Reisen und der Tourismus nehmen großen Raum ein, denn ohne sie wäre die Literatur über die Gegend gar nicht entstanden. Interessant ist das Kapitel über den Bürgenstock, eine steinige Alm über dem See, die von zwei gewieften Bauernsöhnen zu einem Luxusort mit mehreren Grand Hotels, in den Felsen gehauener Promenade und Europas höchstem Aufzug entwickelt wurde. Hier trafen sich bis in die 1970er-Jahre die Reichen und Schönen, dann verstaubte der Platz, wie so vieles in der Schweiz. Zurzeit bauen Investoren aus Katar an einem neuen Bürgenstock-Resort. Zeitreise heißt passend dazu das Tableau.
Christiane Franke, Christina Ljungberg, Barbara Piatti, Yvonne Rogenmoser: Vierwaldstätter See & Gotthard. Wie du diese Landschaft noch nie gesehen hast. Imaginary Wanderings Press, Meggen 2016. 179 Seiten, 12 Tableaus, 60 Euro (bis 31.12.).