"Baroque" ist ein Theaterabend im Zeichen von Diversität und Toleranz, ein Abend gegen die Tyrannei des Body Mass Index : Vier schwergewichtige junge Frauen, Laien, stehen im Schauspielhaus Bochum auf der Bühne und verschwistern sich mit fünf Profis aus dem Ensemble für eine Show, die etwa danach fragt, wie es sich anfühlt, dauernd abschätzige Blicke ertragen zu müssen. Das ist aber "beileibe" nicht alles. Der Abend ist dem Barock gewidmet, einer Epoche, die wir schätzen und lieben. Bach, Händel, Purcell, Vivaldi - ihre oft so triumphale Musik versetzt die Menschen noch Jahrhunderte später in Entzücken. Das Barock hat aber auch eine Gegenseite, die eher vernachlässigt wird, die mit Melancholie zu tun hat und der Mahnung: "Vanitas vanitatum" - alles ist eitel.
Die belgische Regisseurin und Performancekünstlerin Lies Pauwels hat den Bogen von dem einen zum anderen raus. Ihre Spannbreite hat sie vor ein paar Jahren in Bochum schon mit dem verblüffend effektsicheren "Hamiltonkomplex" bewiesen, einem Abend mit weiblichen Teenagern. Ganz offensichtlich fühlen sich die jungen Menschen unter der Obhut dieser lebensfrohen Künstlerin aufgehoben, sie zeigen Seiten von sich, die sie unter anderen Umständen lieber verbergen würden. Im "Hamiltonkomplex" ging es um Nöte der Pubertät, und wenn die Mädchen lustvoll ihre langen Haare fliegen ließen, war das "Anmache" und spielerische Kampfansage zugleich. So auch in "Baroque" das Rededuett zweier stimmgewaltiger Schwergewichtiger, die einem an der Rampe ihren Zorn über landläufige Diffamierungen entgegenbrüllen.
Auch die Musik ist oppulent, wie alles an diesem üppigen Abend
Doch Lies Pauwels ist zu sehr gewiefte Theatermacherin, als dass sie es bei Agitation und Propaganda bewenden ließe. Auch in "Baroque" zieht sie alle verfügbaren Register, um das Publikum im Zweifel eher zu überwältigen, als nur diskret zu bedienen. Die Musik, schon ihrer Natur nach opulent und suggestiv, wird mit voller Lautstärke eingespielt und nach Möglichkeit noch gesteigert. Und die ästhetische Spannbreite zwischen Händel und Caravaggio, zwischen spiritueller Inbrunst und narrativem Raffinement, wird in aller Schärfe ausgespielt und ausgenutzt. Da gibt es immer diesen Zwiespalt zwischen dem Süffigen, dem Verführerischen und dem Abgrund des Dämonischen. Im Barock ist ja der Teufel ganz aktuell. Die Nachbildung einer barocken Marmorskulptur (Bühne und Kostüme: Johanna Trudzinski) zeigt unmissverständlich: Dieser Apoll will die Nymphe Daphne vergewaltigen, sie wird sich in einen Lorbeerbaum verwandeln müssen, um dem zu entgehen.
Eine gewisse Prunksucht ist dem Abend nicht fremd, aber sie passt eben zum Thema; wenn die vier "vollschlanken" Laienspielerinnen selbstbewusst ihre Körper präsentieren, liegt ja auch in der Üppigkeit, in der "Fettfreundlichkeit", wie es im Programm heißt, eine Geste des Prunkvollen. Der Begriff ist allgegenwärtig, er repräsentiert nur eines von zahllosen Synonymen für das grobe, banale Wort "dick". Die fünf Profis kommen bei alldem nicht zu kurz. Wenn Ann Göbel ihre Laienpartnerin schön scheinheilig fragt, ob sie einen Doktor rufen solle, wenn Jing Xiang sich den Mund blutig stößt und eine schaurige "Blutlitanei" von Dracula bis Tarantino performt, oder wenn William Cooper gefühlvoll "Blue Velvet" singt - dann sind dies kostbare kleine Einlagen an einem Abend, der sich zu einer klaren humanen Botschaft formt, ohne Widersprüche zu vernachlässigen.
Die Diversität des Bochumer Ensembles wurde schon häufig gewürdigt. Ärger gibt es gleichwohl auch hier. Vor der Vertragsverlängerung des Intendanten Johan Simons (bis 2026) erregte ein anonymer Brief Aufsehen, der angeblich aus der Mitte des Ensembles stammte und heftig gegen eben diese Verlängerung polemisierte. Simons mache Theater "fürs Feuilleton", hieß es darin, außerdem sei er "nie da". Unzufriedene, wie es sie an jedem Theater gibt? Oder steckt mehr dahinter? Ausverkauft war die "Baroque"-Premiere nicht. Normalerweise macht man dafür zur Zeit die Pandemie verantwortlich.