Schauplatz Stockholm:Der Zufluchtsort

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Astrid Lindgren hat nicht nur Kinderbücher geschrieben, sondern auch politische Texte, über Kinderrechte, Nutztierhaltung oder Atomkraft. Was sie wohl zur Wahl in Schweden gesagt hätte? In ihrer Wohnung spürt man: Sie hat sich nie verstellt.

Von Silke Bigalke

Es ist wirklich ein ganz normaler Hausflur; erster Stock, braune Tür, A. Lindgren steht am Briefschlitz. Draußen auf den Straßen hängen noch die Plakate der Parteien, es war ein vergifteter Wahlkampf. Drinnen in der Wohnung ist es ruhig. Alles ist so, wie Astrid Lindgren es zurückgelassen hat.

Sie lebte gerne hier, mehr als 60 Jahre bis zu ihrem Tod. Als die Familie während des Zweiten Weltkriegs einzog, hatte Astrid Lindgren ein schlechtes Gewissen, weil es ihr so gut ging. In die großen Räume stellte sie viele Bücherregale und Sofas. Jeder Gast sollte einen bequemen Platz zum Sitzen haben. Die größeren Preise, die sie bekam, fand sie praktisch, weil sie schön schwer waren und die Altbaufenster offen halten konnten. Der deutsche Bambi steht immer noch auf einem Fensterbrett und lässt frische Luft herein. Dahinter liegt das kleine Schlafzimmer; neben ihr Bett hat sie Bilder von Vimmerby gehängt, wo sie aufgewachsen ist. Durch ihre Bücher teilte sie diesen kleinen Zufluchtsort mit vielen Schweden und wohl mit noch mehr Deutschen. Was hätte sie dazu gesagt, dass die rechten Schwedendemokraten diese Sehnsucht nach einer heilen Welt für den Wahlkampf ausnutzten? In Vimmerby holten sie mehr als 20 Prozent.

Astrid Lindgrens hat nicht nur Kinderbücher geschrieben und sich sonst rausgehalten. In ihrem Arbeitszimmer hängt eine Karikatur, die sie 1976 mit Finanzminister Gunnar Sträng zeigt, mit dem sie stritt. Die Schriftstellerin hatte zuvor stets die Sozialdemokraten gewählt. Bis sie sich, inzwischen 69 Jahre alt, furchtbar über deren Steuerpolitik ärgerte und das Märchen "Pomperipossa in Monismanien" verfasste. Es handelte von einer Kinderbuchautorin, die 102 Prozent Steuern zahlen musste. "O du reine, blühende Sozialdemokratie meiner Jugend, was haben sie aus dir gemacht?", schrieb sie und machte fast Wahlkampf gegen die Partei, die dann auch nach mehr als 40 Jahren Regierung verlor. Astrid Lindgren schrieb nun häufiger politische Texte, über Kinderrechte, Nutztierhaltung, Atomkraft, in ihrer unverblümten und emotionalen Art.

Das ist es, was man in ihrer Wohnung spürt: Sie hat sich nie verstellt. Da steht immer noch das Telefon mit den extra großen Tasten, weil sie am Ende kaum noch sehen konnte. Die Liste mit den Fernsehsendern, die ihre Enkel groß mit schwarzem Marker aufgeschrieben haben. Die Wohnung einer Urgroßmutter, die Bücher liebte.

© SZ vom 19.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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