Schauplatz New York:Zahlenmagie

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Rucksäcke sind verboten. Alkohol auch. Es gibt keine Klos. Warum also feiern so viele Menschen Silvester auf dem Times Square?

Von CHRISTIAN ZASCHKE

Das neue Jahr hat auch in New York begonnen, was bedeutet, dass es an der Zeit ist, Mitleid mit den armen Seelen zu haben, die den Jahreswechsel auf dem Times Square in Manhattan verbracht haben. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, verbringt Silvester auf dem Times Square. Man geht vielleicht zunächst zu einer kleinen Privatparty oder gar zu einer größeren Privatparty. Gegen zwei Uhr morgens verfügt man sich dann zum Beispiel in die Bar "Milano's" in Downtown, in der Ingenieurinnen neben Dichtern sitzen, und in der unter anderem Schauspieler und Nordirinnen die Drinks servieren.

Wer Silvester aber tatsächlich auf dem Times Square verbracht hat, musste ein paar Dinge beachten: Im Idealfall war man zwölf Stunden vor Mitternacht dort, eher früher, weil der Platz gesperrt wird, wenn er voll ist. Man sollte gegessen haben, man sollte noch mal aufs Klo gegangen sein, denn es gibt auf dem Times Square keine mobilen Toiletten. Dann hieß es: ausharren, bei winterlichen Temperaturen, in diesem Jahr im Regen, ohne Klo, ohne Sitzplatz. Um Mitternacht fuhr dann, wie in jedem Jahr, ein Glitzerball einen gut 20 Meter langen Pfosten auf einem Hochhaus hinab, was offiziell "The Ball Drop" heißt. Später wurde eine zu laute Version von Sinatras "New York, New York" gespielt. Man durfte keine Rucksäcke mitnehmen, keinen Alkohol, kein gar nichts, und wenn man seinen Platz kurz verließ, war er weg. Es gibt wirklich kaum eine schlechtere Idee, als Silvester auf dem Times Square zu verbringen.

Es gibt kaum eine schlechtere Idee, als hier Silvester zu verbringen. Viele tun es trotzdem

Dennoch haben sich schon wieder zwei Millionen Menschen dazu entschieden, genau das zu tun. So lautet die offizielle Schätzung der New Yorker Polizei. Zwei Millionen. Kann das stimmen? Das wären mehr Menschen auf engstem Raum, als Hamburg oder München Einwohner haben.

Bis 1998 hat die Polizei behauptet, dass zirka 500 000 Menschen rund um den Times Square feiern. Eine enorme Zahl. Es war damals genau so voll wie heute, und auch damals war die Zahl nach Ansicht von Experten stark übertrieben. Für die Feiern zum Beginn des Jahres 2000 hatte der damalige Bürgermeister Rudy Giuliani dennoch beschlossen, dass es bis zu zwei Millionen Menschen seien, die in der Gegend unterwegs seien. Diese Zahlen sind reines Marketing, sie sollen bedeuten: New York ist das Zentrum der Welt.

In diesem Jahr nun berichteten verschiedene amerikanische Medien von einem Professor namens Keith Still, der an der Manchester Metropolitan University in England lehrt. Er ist Experte darin, die Größe von Menschenansammlungen zu schätzen. Er sagt: Wie viele Menschen sich irgendwo versammeln, wird in der Regel überschätzt. Feiern also alljährlich wirklich zwei Millionen Menschen rund um den Times Square, wurde er gefragt. Seine Antwort: Vermutlich sind es etwas weniger als 100 000. Das New Yorker Stadtmarketing ignoriert diese These gelassen.

© SZ vom 02.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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