Schauplatz Mailand:Der bornierte Blick

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Der Sonntag des Referendums, der sich für viele so anfühlte, als müssten sie sich entscheiden, ob sie sich aus einem Fenster im ersten Stock oder aus einem im vierten Stock stürzen wollen. Und dann tanzt ein Weihnachtsmann Breakdance.

Von Thomas Steinfeld

Der Sonntag, an dem sich die Zukunft Italiens entscheiden sollte, war in Mailand ein grauer, kalter Tag. Die Einheimischen gingen einkaufen, die Touristen, die aus der Schweiz und aus Frankreich für das Wochenende herübergekommen waren, taten das Gleiche. Manche von ihnen saßen im "Camparino della Galleria" an der Piazza del Duomo, dem Ort, an dem der globale Siegeszug des Campari seinen Anfang genommen haben soll, und tranken eben diesen roten Likör. Die Fenster in den oberen Stockwerken des Palazzo gegenüber sind zu weiß-roten Türchen in einem Weihnachtskalender umgestaltet. Um achtzehn Uhr trat eine Frau an das Fenster mit der Nummer "4" und sang, ohrenbetäubend verstärkt, im Auftrag der österreichischen Tourismusbehörde das Lied "Süßer die Glocken nie klingen". Sie sang auf Deutsch. Später tanzte, vermutlich im eigenen kommerziellen Auftrag, unten auf dem Domplatz ein Weihnachtsmann zu den Klängen von "Jingle Bells" eine Art Breakdance.

Eine Dame, die in einer kleinen Gruppe auf der Terrasse des "Camparino della Galleria" sitzt, lässt den Kopf hängen. Bei diesem Referendum , sagt sie, habe sie das Gefühl, sie sei gezwungen, sich zu entscheiden, ob sie sich aus einem Fenster im ersten Stock oder aus einem im vierten Stock stürzen wolle. Ihr sei der erste Stock lieber, denn dann komme sie vielleicht mit gebrochenen Beinen davon. Eine Freundin tritt hinzu. Sie hatte sich an diesem Tag die Ausstellung mit den Veduten Canalettos und seines Neffen Bellotto ansehen wollen. Darin, behauptet die Werbung, sei zu sehen, wie sich Europa ausgenommen habe, als es mit venezianischen Augen angeschaut wurde. Die Schlange der Wartenden vor den Gallerie d'Italia sei zweihundert Meter lang gewesen. Angesichts von so viel Patriotismus habe sie aufgegeben.

Bewegung kommt in die kleine Gruppe, als auch der Gatte der ersten Dame eintrifft. Er ist Musiker, genauer: Gitarrist, und sein Metier ist das scheinbar Populäre. Von ihm heißt es, er habe zu den ersten italienischen Musikern gehört, die den Rock 'n' Roll in diesem Land eingeführt hätten. Später habe er die Beatles südlich der Alpen bekannt gemacht, indem er deren Stücke nachgespielt habe. Der Musiker erklärt, dass, anders als etwa in Deutschland oder in Großbritannien, die Tradition des volkstümlichen Liedes in Italien immer stärker gewesen sei als der Import jüngerer Musik aus dem Ausland. Eher als dass die canzone sich also der Rockmusik anverwandelt habe, sei das Umgekehrte geschehen: Die Rockmusik habe sich der canzone angeglichen. Dann schaut der Musiker auf sein Mobiltelefon und sinkt in sich zusammen: Mehr als sechzig Prozent der Stimmberechtigten haben in Mailand gewählt, sagt er. Das könne nur bedeuten, dass der bornierte Blick nach innen gewinne.

© SZ vom 07.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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